VISION 20003/2005
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Der Christ braucht einen klaren Glauben

Artikel drucken Über die wahre Mündigkeit

Im Glauben sollten wir keine Kinder bleiben, in einem Status der Unmündigkeit. Und worin besteht das “unmündige Kinder sein" im Glauben? Der heilige Paulus antwortet: “ein Spiel der Wellen, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen" (Eph 4, 14). Eine sehr aktuelle Beschreibung!

Wie vielen Widerstreit der Wellen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennen gelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen... Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wellen umher geworfen worden - von einem Extrem ins andere: Vom Marxismus zum Liberalismus, bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus hin zu einem vagen religiösen Mystizismus, vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter.

Jeden Tag entstehen neue Sekten und es realisiert sich das, was der heilige Paulus über den Betrug der Menschen sagt, über die Verschlagenheit, die in die Irre führt (vgl. Eph 4, 14). Einen klaren Glauben zu haben, gemäß dem Credo der Kirche, wird oft als Fundamentalismus hingestellt. Während der Relativismus, also das “hin und her getrieben Sein vom Widerstreit der Meinungen" als die einzige Einstellung erscheint, die auf der Höhe der heutigen Zeit ist. Es konstituiert sich eine Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das Ich und seine Bedürfnisse lässt.

Wir aber haben ein anderes Maß: Den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus. “Reif" ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und des letzten Schreis folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus verwurzelt ist. Es ist diese Freundschaft, die uns all dem gegenüber öffnet, was gut ist und uns das Kriterium liefert, zwischen Wahr und Falsch zu unterscheiden, zwischen Betrug und Wahrheit. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir reifen lassen, zu diesem müssen wir die Herde Christi führen. Und es ist dieser Glaube - nur der Glaube -, der Einheit stiftet und sich in der Liebe verwirklicht.

Der heilige Paulus bietet uns dazu - im Unterschied zu den Wechselbädern jener, die wie unmündige Kinder ein Spiel der Wellen sind - ein schönes Wort: Die Wahrheit in der Liebe tun als Grundformel einer christlichen Existenz. In Christus fallen Wahrheit und Liebe zusammen. In dem Maße, in dem wir uns Christus nähern, vertiefen sich auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind; die Wahrheit ohne Liebe wäre wie “dröhnendes Erz" (1 Kor 13, 1).

Kardinal Joseph Ratzinger

Auszug aus seiner Predigt von in der “Missa pro eligendo papa",
der Messe vor dem Konklave am 18.4.05, dokumentiert in kath.net.

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