VISION 20002/2023
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Es braucht viel Heiligen Geist und die Fähigkeit zu unterscheiden

Artikel drucken Über die Konfrontation von Zeitgeist und „Geist der Zeit“ (Richard Kocher)

 Die Welt versucht immer, Einfluss auf die Kirche auszu­üben und sie nach den eigenen Prioritäten zu gestalten. Eine Kirche aber, die ihre Lehre nach den Moden der Zeit ausrichtet, braucht niemand.

     
 Pfarrer Ricard Kocher  

Roman Herzog (1934-2017) ist in seiner Rede anlässlich der Festveranstaltung „150 Jahre Deutscher Katholikentag“ am 11. Juni 1998 in der Frankfurter Paulskirche, als er deutscher Bundespräsident war (1994-1999), auf diese Thematik von echter und falscher Verkündigung eingegangen: ,,Was ich vom kirchlichen Engagement erwarte – und zwar nicht nur als Person, sondern dezidiert von meinem Amt her –, ist, um es vorsichtig zu sagen, die Konfrontation der Menschen mit einer Vertikalen, mit der "ganz anderen" Perspektive. Zu vieles, was Staat und Gesellschaft heute beschäftigt, macht den Eindruck, es gehe um Allerletztes und Allerwichtigstes. Die Kirche aber sollte daran erinnern, dass viele unserer Debatten sich – im besten Fall – um Vorletztes drehen. Das scheint mir die Aufgabe der Kirche zu sein, die heute am notwendigsten ist."
Die Kirche soll die Menschen mit der Vertikalen konfrontieren, der Perspektive Gottes. Das ist ihr genuiner prophetischer Auftrag, dem sie nicht ausweichen darf. Sie darf sich nicht in tagesaktuellen Geschehnissen verlieren, weil dies nicht ihre Sendung ist, sondern muss diese im Licht der Offenbarung reflektieren und von dort her Antwort geben. Letzter Bezugspunkt ist aber immer Gott und nicht das Zeitgeschehen.
Auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hat sich in einem Interview mit der Herder-Korrespondenz vom 5. Oktober 2021 so geäußert: „Ich bin für diese Kämpfe einfach zu alt, ganz platt gesagt. Ich habe in diesen Fragen so viel gekämpft und bin müde geworden ... Ich beschäftige mich mehr mit der Gottesfrage, die letztlich viel wichtiger ist. Der größte Teil der Menschen verlässt die Kirche, weil sie den Glauben verloren haben. Vieles, was uns an der katholischen Kirche nicht gefällt, haben die Evangelischen, und es geht ihnen auch nicht besser. Und trotzdem hoffe ich auf die Ökumene." Es ist erstaunlich, dies von einem Politiker zu hören, der im Tagesgeschäft der Politik steckt und sich doch so grundsätzlich äußert; das würde man von einem Hirten unserer Kirche erwarten.
Die entscheidenden Fragen sind anders als das, was uns derzeit als angeblich so wichtig vermittelt wird: Lebe ich das, wofür ich einmal Rechenschaft ablegen muss, das Hauptgebot der Got­tes- und Nächstenliebe? Suche ich die Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht in Gott, weil ich auf Ihn hin geschaffen bin, wie Augustinus sagt? Wie gestalte ich mein Leben so, dass es für mich sinnhaft und stimmig ist?
Wenn es stimmt, dass Gott exis­tiert, dann hat er einen Auftrag für mich, eine Sendung für mein Leben, der nur ich selbst unvertretbar nachkommen kann. Es kommt darauf an, diese zu erkennen und ihr gerecht zu werden im Wissen darum, dass der himmlische Vater den bestmöglichen Plan für mein Leben und dessen Gelingen hat; diesen kann ich nicht selbst entwerfen und er ist oft überraschend.Die Australierin Bronnie Ware hat Sterbende begleitet und die Erfahrungen, die sie hierbei gemacht hat, in dem Buch 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen niedergelegt. Auf dem Sterbebett kehrt Ehrlichkeit ein und es geht darum, was letzten Endes wirklich zählt. Vieles, was bisher wichtig war, wird relativ; es hat sich aber in unguter Weise in den Vordergrund gedrängt. Über 70 Prozent der von ihr befragten Personen im Hospiz gaben an, sie hätten am Sinn ihres Lebens vorbeigelebt. Sie haben sich leben lassen, ihre eigenen Wünsche hintangestellt und deshalb auch nicht das realisiert, was Gott ihnen als Auftrag für ihr Leben gegeben hat. Die Arbeit hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, die sie besser in die Beziehungspflege, besonders mit ihrer Familie und ihren Freunden, investiert hätten. Auf dem Sterbebett ist es aber zu spät, dies zu ändern.

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Joseph Ratzinger hat schon 1977 in „Dogma und Verkündigung“ geschrieben: „Israel murrt gegen seinen Gott und will "zurück ins Heidentum". Ist darin nicht auch unsere Situation beschrieben? Kirche ist heute in einer ganz neuen Weise ... in die Zeit der Wüste hineingeschickt. Sie hat so viele Behausungen und Sicherungen verloren. Nichts von dem, was sie zu tragen schien, hält mehr.“ Auch an die Kirche unserer Zeit „drängen sich die Halluzinationen der Wüste, ihre Versuchungen heran. Auch ihr legt sich nahe, da der ferne Gott so ungreifbar geworden ist, es mit dem Näheren zu versuchen, die Weltlichkeit selbst als Christlichkeit zu erklären, das Aufgehen in der Welt als den wahren Dienst Jesu Christi auszulegen.“
Die Versuchung besteht darin, sich der Welt anzugleichen und ihre Verhaltens- und Sichtweisen kritiklos zu übernehmen in der Illusion, dadurch den Menschen einen Dienst zu erweisen. Die Spannung aus Offenbarung und gesellschaftlicher Wirklichkeit in dieser Umbruchszeit wird nicht ausgehalten. Weltlichkeit wird als wahre Christlichkeit ausgelegt und einer undifferenzierten Anpassung an die gesellschaftliche Wirklichkeit das Wort geredet. Immer wieder ist zu hören, dass die Kirche die „Zeichen der Zeit“ vernehmen und sich danach ausrichten müsse.
Dieser Begriff wird geradezu inflationär gebraucht, um in der Kirche radikale Veränderungen anzustoßen, weil die Welt der Kirche angeblich an Erkenntnissen voraus sei. Diese werden „fast euphorisch zu einer theologischen Erkenntnisquelle nahezu ersten Ranges für die Reform der Kirche hochstilisiert.“
Es ist erstaunlich, wie sehr hier das Neue Testament ignoriert wird, denn mit „Zeichen der Zeit“ ist im Evangelium keinesfalls die gesellschaftliche Realität gemeint, sondern einzig und allein die Machttaten Jesu und dessen Verkündigung der Got­tesherrschaft. „Die Liebe zu Jesus und seinen Worten müsste die eigentliche Quelle jeder kirchlichen Reformbewegung sein.“
Viel Geduld und Unterscheidung der Geister ist angesagt, denn nur so kann eine Krisenzeit zur Chance für einen Neuaufbruch werden. Die Versuchung, sich so zu verhalten, ist deshalb so stark, weil wir Angst haben, dass es uns so geht wie den Propheten. Wer sich wie die echten Propheten damals gegen die herrschende Meinung stellt, wird mit sozialer Ächtung bestraft: Wer will das schon? Bischof Dr. Bertram Meier formulierte das in einer Predigt einmal so, dass wir alle in der Gefahr stünden, Bühnenmenschen zu werden. Auf der Bühne des Lebens liefern wir ein Schauspiel ab, hinter dem das eigentliche Leben aber verschwindet. Hauptmotiv ist: Non fare una brutta figura. Auf keinen Fall eine hässliche Figur abgeben!
Schon von der Struktur der Kirche her ist es ihre Aufgabe, querständig in die Zeit hineinzusprechen. Ein Amt in der Kirche ist etwas anderes als das Mandat eines Politikers, der sich der Wahl der Bürger stellen muss. Im kirchlichen Dienst dagegen geht es um eine Berufung, die Gott geschenkt hat und die von der Kirche geprüft wird. Es ist ferner kein Amt, das auf Zeit gegeben ist. Dies erlaubt der Kirche und ihren Vertretern dort, wo es notwendig ist, um Gottes und der Menschen willen Positionen zu vertreten, welche der Mehrheitsmeinung entgegenstehen. Die relative Unabhängigkeit, die die Kirche hat, macht dies möglich; deshalb ist es ihre genuine Aufgabe, zu den Fragen der Zeit kritisch Stellung zu beziehen.
In der derzeitigen Umbruchszeit wird vieles verloren gehen, wie etwa die privilegierte Stellung der Kirche in der Gesellschaft, und manches wird sich verändern. Die Kirchenkrise hat noch gar nicht richtig begonnen. Umbruchszeiten sind meist auch Krisenzeiten und umgekehrt. Trotz und gerade deshalb braucht es prophetische Inspiration, die von Gott her in die Zeit hineinspricht und aufzeigt, was bleibend und was veränderlich ist.
Es braucht viel Heiligen Geist und Unterscheidungsvermögen, dies zu tun. Niemand kann der Kirche diese Aufgabe abnehmen. Wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommt und ihre Botschaft sogar noch der Welt angleicht, verfehlt sie ihren Auftrag, stellt sie eine Verdoppelung zum bereits Vorhandenen dar und macht sich damit überflüssig. Die Folge davon ist, dass sie immer mehr an Bedeutung verliert und die Menschen in Scharen aus einer solchen Kirche flüchten, weil sie ihnen nichts mehr zu sagen hat.

Der Autor ist Programmdirektor von radio horeb und Pfarrer in Balderschwang, sein Beitrag ein Auszug aus Zeitgeist oder Geist der Zeit. Media Maria Verlag 2022, 189 Seiten, 20,50€. Siehe auch die Besprechung S. 20-21.

 

 

 

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