VISION 20001/2023
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Denken wird zum Glücksspiel

Artikel drucken Ohne gemeinsame Wertebasis, redet man aneinander vorbei (Joel Hautebert)

Wir erleben eine Sprachverwirrung, die das Zusammenleben zunehmend belastet. Begriffe werden einfach umgedeutet. Auf diese Weise gelingt es ide­ologischen Minderheiten, fast unbemerkt von der Mehrheit die Wahrnehmung zu verändern.

   
 Joel Hautebert  

Dass der gesunde Menschenverstand verloren geht, wird seit längerem von vielen Beobachtern regis­triert. Die Politik besteht nicht mehr darin, das Allgemeinwohl zu fördern, sondern neue Rechte anzuerkennen. Sie werden gefordert von militanten Gruppen, die sich auf neue, selbst gewählte, spontan entstandene Identitäten berufen, solchen, die sich von den traditionellen und natürlichen Identitäten lossagen.
Dieser Verlust der politischen Vernunft geht heute mit dem Verschwinden der aller elementarsten anthropologischen, von der gesamten Menschheit geteilten Grundlagen einher. Noch vor einigen Jahrzehnten gab es einen von fast der gesamten Bevölkerung geteilten geistigen Hintergrund, demzufolge es beispielsweise außer Frage stand, dass der Mensch den Tieren überlegen ist, dass er eine besondere und übergeordnete Stellung im Universum einnimmt, dass ein Mann ein Mann und eine Frau eine Frau ist, dass die Ehe einen Mann und eine Frau verbindet und dass jedes Kind einen Papa und eine Mama hat.
Diese grundlegenden gemeinsamen Orientierungspunkte hatten zur Folge, dass man Meinungen austauschen, diskutieren und den Versuch unternehmen konnte zu überzeugen, indem man beispielsweise Analogien zu diesen Grundwahrheiten herstellte. In dem Moment, in dem es eine solche Basis gibt, kann man auf ihr aufbauen, gemeinsam nachdenken und versuchen herauszuarbeiten, wie sich das Puzzle des Lebens zusammensetzt. Verliert man diese gemeinsamen Orientierungspunkte führt das dazu, dass man bei jeder Diskussion aneinander vorbeiredet. Werden diese Selbstverständlichkeiten infrage gestellt, so hat das schwerwiegende Folgen für unsere Fähigkeit zu argumentieren. (…)
Ein typisches Beispiel ist das Thema Familie. Viele unserer Zeitgenossen sind immer noch der Ansicht, dass die Familie ein unersetzbarer Ort der Sozialisation sei. Nur sagt man uns heute, das gelte für alle „Familien“ – in welcher Zusammensetzung auch immer. Somit sprechen wir aber nicht über dasselbe Thema. Und was ist mit den Kunstworten Gleichheit, Würde, Respekt, deren Verwendung allein schon jede Definition obsolet werden lässt? Oder Gewalttaten gegen Frauen?
Klarerweise sind diese, wie alle Gewalttaten verurteilenswert. Was allerdings der Zeitgeist unterstellt, ist, dass der Mann ein verdächtiges Wesen sei mit starker Tendenz, dominant zu sein. So werden die Verbrechen gegen Frauen neuerdings in „Femizide“ umbenannt. Diese Wortschöpfung legt nahe, dass es nicht mehr um einen Angriff auf die moralische und physische Integrität einer Person geht, sondern um eine kriminelle Handlung gegen eine unterdrückte Personengruppe, die man gesetzlich besonders schützen müsse. Der Übeltäter folge somit nicht einer unbeherrschten Leidenschaft, sondern einem rassistischen Instinkt.
Wer es wagt, die Handlung auf die klassische Weise zu interpretieren, stellt sich schon ins Abseits und wird des heimlichen Einverständnisses mit dem Täter verdächtigt, den er zu rechtfertigen versuche.
Dieses Beispiel illustriert das verbreitete Phänomen der Neubewertung der Realität, wie sie für unsere Zeit typisch ist. Neubewertung bedeutet, dass man Tatsachen in ein vorgefertigtes intellektuelles Schema presst und damit deren Wahrnehmung festlegt. Man interpretiert die Fakten gänzlich losgelöst von der Erfahrung.
Diese Vorgangsweise ist nicht neu, weil sie das Kennzeichen jeder Ideologie ist, aber sie wird dadurch verstärkt, dass die gemeinsame Vorstellung von dem, was den Menschen kennzeichnet, verloren gegangen ist. Die Realität entfernt sich mehr und mehr von der Wahrnehmung – und verschwindet.
Der Verlust eines gemeinsamen anthropologischen Denkgebäudes verwandelt die Fähigkeit zu denken in ein Glücksspiel. Alles wird zerlegt und wieder zusammengesetzt, abgewertet und wieder neubewertet aufgrund ideologischer Vorgaben.
(…) Noch einmal, das ist alles nicht ganz neu, aber heute betrifft das Phänomen nicht nur eine ideologisch geprägte Intelligenzija, sondern die gesamte Gesellschaft. Wir sind in eine neue intellektuelle Welt eingetreten – mit einer neuen Sprache. Und dennoch – verzeihen Sie mir den Bezug auf das Lenin zugeschriebene Wort – „die Fakten sind hartnäckig“. Um sie richtig zu deuten, muss man korrekt denken. „Adequatio rei et intellectus“, die Realität und das Denken müssen Hand in Hand voranschreiten.

Der Autor ist Professor für Rechtsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Angers, Frankreich, sein Beitrag ein Auszug aus einem Artikel in L’Homme Nouveau v. 4.6.22

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