VISION 20001/2023
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Der Ratzinger, den ich kannte…

Artikel drucken Antworten auf die vielen Karikaturen vom Kirchenlehrer Ratzinger (George Weigel)

Der Joseph Ratzinger, den ich 35 Jahre lang gekannt habe – zunächst als Präfekt der Glaubenskongregation, dann als Papst Benedikt XVI. und schließlich als Papst emeritus – war ein brillanter, heiligmäßiger Mann, der keinerlei Ähnlichkeit mit der Karikatur hatte, die zunächst von seinen theologischen Feinden entworfen worden war und sich dann in den Medien etabliert hat.

Der Karikatur-Ratzinger war ein grimmiger, unerbittlicher kirchlicher Inquisitor und Vollstrecker, „Gottes Rottweiler“. Der Mann, den ich kannte war ein großartiger Gentleman, sanftmütig, ein schüchterner Mann, der dennoch einen robusten Sinn für Humor hatte, ein Mozart-Liebhaber, ein im Grunde fröhlicher Mensch, kein mürrischer Spinner.
Der Karikatur-Ratzinger war unfähig, das moderne Denken zu verstehen und wertzuschätzen. Der Ratzinger, den ich kannte, war wohl der gelehrteste Mann der Welt mit einem enzyklopädischen Wissen der christlichen Theologie (katholische, orthodoxe und protestantische), der Philosophie (des Altertums, des Mittelalters und der Moderne), der biblischen Studien (christlich und jüdisch), der politischen Theorien (der Klassik und der Gegenwart). Sein Geist war hellwach und arbeitete systematisch. Und wenn ihm eine Frage gestellt wurde, antwortete er in ganzen Absätzen – in drei oder vier Sprachen.
Der Karikatur-Ratzinger war politisch ein Reaktionär, verwirrt durch die Studentenproteste 1968 in Deutschland und geprägt von der Sehnsucht nach Wiederherstellung der monarchischen Vergangenheit; seine bösartigeren Feinde deuteten Sympathien für die Nazis an (daher der hässliche Beiname „Panzerkardinal“). Der Ratzinger, den ich kannte, war jener Deutsche, der anlässlich der Staatsvisite in Großbritannien 2010 dem Volk des Vereinigten Königsreiches dankte, dass es die Schlacht um England gewonnen hatte…
Der Karikatur-Ratzinger war ein Feind des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der Ratzinger, den ich kannte, war – damals erst Mitte der dreißig – einer der drei einflussreichsten, und produktivsten Theologen des 2. Vaticanums – der Mann auch, der als Präfekt der Glaubenskongregation, zusammen mit Johannes Paul II. an einer zuverlässigen Interpretation des Konzils gearbeitet und diese in seiner Amtszeit als Papst vertieft hat.
Der Karikatur-Ratzinger war, was Liturgie betraf, ein Höhlenmensch, entschlossen, die Liturgiereform rückgängig zu machen. Der Ratzinger, den ich kannte, war zutiefst – spirituell und theologisch – geprägt von der Liturgischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Ratzinger war in Fragen der liturgischen Vielfalt weitaus großzügiger als sein Nachfolger. Denn Benedikt XVI. glaubte daran, dass die edlen Ziele der Liturgischen Bewegung, die ihn geformt hatte, nämlich ein lebendiger Pluralismus, letztlich in der Kirche verwirklicht werden und sie  durch ehrfürchtige Anbetung für ihren Dienst und ihre Mission befähigen würde.
Der Karikatur-Ratzinger war ein Überrest von gestern, ein intellektueller Rückschritt, dessen Bücher bald verstauben würden, ohne in der Kirche und in der Weltliteratur Spuren zu hinterlassen. Der Ratzinger, den ich kannte, war einer der wenigen Autoren der Gegenwart, der sicher damit rechnen konnte, dass seine Bücher noch Jahrhunderte später gelesen werden würden. Ich vermute auch, dass einige der Predigten dieses seit Papst Gregor dem Großen größten päpstlichen Predigers möglicherweise Eingang in das offizielle Gebet der Kirche, in das Stundengebet, finden werden.
Der Karikatur-Ratzinger war machtgierig. Der Ratzinger, den ich kannte, versuchte dreimal seinen Posten in der Kurie zurückzulegen, hatte überhaupt keine Lust, Papst zu werden, und sagte seinen Mitbrüdern 2005, dass er kein Mann fürs Regieren sei und das Papstamt nur aus Gehorsam angenommen hatte, weil er die überwältigende Wahlzustimmung seiner Mitbrüder, der Kardinäle, als Willen Gottes angesehen hatte.
Der Karikatur-Ratzinger hat nicht auf den Missbrauch durch Priester reagiert. Der Ratzinger, den ich kannte, hat mehr als irgendein anderer, sowohl als Präfekt der Glaubenskongregation wie als Papst, getan, um die Kirche zu reinigen von dem, was er brutal und präzise als Dreck bezeichnet hatte.
Der Schlüssel zum wahren Joseph Ratzinger und zu seiner Größe war seine tiefe Liebe zum Herrn Jesus Christus – eine durch eine außergewöhnliche theologische und exegetische Begabung veredelte Liebe. Sie wurde in seiner Trilogie Jesus von Nazareth offenbar, ein Werk, das er als Schlussstein seines lebenslangen wissenschaftlichen Schaffens angesehen hat. In diesen Büchern waren mehr als sechs Jahrzehnte des Lernens zu einem Bericht kondensiert, von dem er hoffte, er würde anderen helfen, zu Jesus zu kommen und Ihn ebenso zu lieben, wie er es tat.
 „Freundschaft mit Jesus“ war das große Thema, auf das er in unterschiedlichen Variationen immer wieder zurückkam: der Anfang und das „sine qua non“ des christlichen Lebens. Diese Freundschaft zu pflegen, ist die eigentliche Bestimmung der Kirche. Die letzte monumentale Gestalt des Katholizismus des 20. Jahrhunderts ist heimgekehrt zu Gott, der nicht verabsäumen wird, seinen guten Knecht zu belohnen.

Geroge Weigel ist Journalist, Autor vieler Bücher, u.a. über Benedikt XVI. Der Text erschien in The Catholic World Report v. 4.1.23


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