VISION 20001/2011
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Einheit in der Wahrheit

Artikel drucken Was die Katholiken der Welt schulden (Johannes Holdt)

Frage: Warum schließen wir in der Meßfeier an das Vaterunser nicht wie die Evangelischen die Schlußformel an: „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit…“?
Antwort: Weil dann die vielleicht wichtigste Bitte des Gottesdienstes unter den Tisch fallen würde: „Bewahre uns, Herr, vor Verwirrung und Sünde“.


Das Gebet, das die letzte Vater-unser-Bitte in der Messe weiterführt („Embolismus“), gehört zu den ältesten Elementen der Liturgie. Es trägt die Handschrift von Papst Gregor dem Großen: „Erlöse uns Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers, Jesus Christus erwarten“. Die Tatsache, daß heute viele Priester und Gemeinden meinen, dieses Gebet getrost eliminieren zu dürfen, beweist, wie weit die Verwirrung auch in der Kirche um sich gegriffen hat. Ist doch die katholische Liturgie nicht etwas nach eigenem Gutdünken Zusammengebasteltes, sondern der universale Gottesdienst der Kirche, an dem – wie das II. Vaticanum einschärft – „niemand etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern darf, und sei es auch ein Priester“ (SC 22).
Wenn für unsere chaotische Zeit ein Anliegen wichtig ist, dann der Wunsch, vor Verwirrung verschont zu bleiben. Für viele ist es die schlimmste Vorstellung, im Alter einmal nicht mehr Herr über sich selbst zu sein, verwirrt und dement zu werden. Der Verlust des Bewußtseins und der Vernunft beraubt den Menschen dessen, was ihn eigentlich zum Menschen als individuelle Persönlichkeit macht. Noch katastrophaler ist es, wenn eine Gesellschaft im Ganzen „den Kopf verliert“, völlig orientierungslos im Dunkeln tappt und sich willenlos von den jeweils stärksten Strömungen da- und dorthin treiben läßt.
Peter Seewald zeichnet in seinem neuen Interview-Buch mit Papst Benedikt ein treffendes Bild der wirren Welt von heute: „Wir sehen in unseren Tagen, wie die Welt Gefahr läuft, ins Bodenlose abzurutschen. Daß ein entfesseltes Wirtschaftssystem sich zu einem Raubtierkapitalismus entwickeln kann, der ungeheure Werte verschlingt; daß uns das Hochgeschwindigkeitsleben nicht nur überfordert, sondern auch desorientiert; daß neben der rastlosen auch eine ratlose Gesellschaft herangewachsen ist, die heute für falsch hält, was gestern noch als richtig galt, und morgen für richtig, was heute als falsch gilt. Da gibt es Krankheiten wie Burn-out als Massenphänomen, neue Süchte wie Spiel – und Pornosucht. Da entstand im Optimierungswahn der Konzerne ein kaum noch zu bewältigender Arbeitsstreß; da ist die prekäre Situation von Kindern, die unter dem Verlust von Familienbeziehungen leiden; die Dominanz der Medien, die eine Kultur des Tabubruchs, der Verdummung und der moralischen Abstumpfung entwickelt haben; da sind die elektronischen Unterhaltungsangebote, die unsere menschlichen Qualitäten manipulieren und zerstören könnten“ (Licht der Welt). Aber genau so will es die „Diktatur des Relativismus“, vor der zu warnen der Papst nicht müde wird. Eine Welt ohne verbindliche Maßstäbe der Orientierung, ohne Wahr und Falsch.
Wenn es Wahr und Falsch nicht mehr gibt, wenn das Ansichtssache ist, dann gibt es auch nicht mehr Gut und Böse. Dann aber gilt: Recht hat, wer sich durchsetzt; gut ist, was der augenblicklichen Mehrheit nützt. Und die hochzivilisierte Gesellschaft fällt zurück auf das Niveau des Dschungels: Fressen und Gefressenwerden, Kampf aller gegen alle, Überleben der Stärksten. Die Orientierungslosigkeit führt auf direktem (wenn auch schleichendem) Weg zur Unmenschlichkeit. Die Leugnung der Wahrheit zur Zerstörung des Menschen. Nicht umsonst nennt Jesus den Teufel (von griechisch „Diabolos“ Durcheinanderbringer) den „Vater der Lüge“ und „Menschenmörder von Anbeginn“ (Joh 8,44). Und wir verstehen, warum der hl. Thomas von Aquin sagen kann: „Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, ihn vom Irrtum zur Wahrheit zu führen“ (In Div. nom. 13,4).
Hier ist besonders die Kirche gefordert, der in der Nachfolge ihres Herrn das Zeugnisgeben für die Wahrheit aufgetragen ist (Joh 18,37). Dazu gehört auch und vor allem die Glaubenswahrheit. Denn gerade sie ist heute Mangelware. Die Unwissenheit im Glauben ist haarsträubend. Viele Getaufte sind religiöse Analphabeten – und darum eine leichte Beute für falsche Propheten, Gurus, Irrlehrer. Das ist auch eine Schuld derer, denen die Verkündigung des Glaubens aufgetragen ist, die dieses Amt aber nicht treu und beherzt genug ausüben. Dabei ist es ein Werk der Nächstenliebe – und nicht etwa kirchlicher Bevormundung – das „kostbare Gut“ des Glaubens (1 Tim 1,14) unverkürzt, unverwässert und unverfälscht weiterzugeben. Manche fordern heute die „Christenrechte in der Kirche“ ein. Ob sie dabei an das wichtigste Grundrecht des Gläubigen denken: den Glauben gemäß der Lehre der Kirche vermittelt zu bekommen?
Ja, die Verwirrung ist groß. Und am schlimmsten ist für den gläubigen Katholiken die Uneinigkeit in den eigenen Reihen. Wie selbstbewußt könnten wir einer ganzen säkularisierten Welt entgegentreten, wenn wir nur einig wären? Das I. Vaticanum zählt die „katholische Einheit“ zu jenen Kennzeichen der Kirche, die „einen mächtigen und fortdauernden Beweggrund der Glaubwürdigkeit und ein unwiderlegliches Zeugnis ihrer göttlichen Sendung“ darstellen (Dei Filius, Kap.3). Katholische Einheit meint dabei nicht Einförmigkeit und Gleichmacherei, sondern die dreifache Einheit des Glaubens, der Liturgie und des apostolischen Amtes in der Vielfalt der nationalen und kulturellen Besonderheiten. Der Bischof von Rom in seiner universalen Rechts- und Lehrautorität ist – wiederum nach Aussage des I. Vaticanums – das „dauerhafte Prinzip und sichtbare Fundament“ dieser Einheit.
Verwirrung, Uneinigkeit und Durcheinander müssen also nicht das letzte Wort haben. Es gibt ein Prinzip und Fundament, das uns die Einheit in der Wahrheit verbürgt – mitten im Chaos der Gegenwart. Ein Gegenmittel gegen die grassierende Immunschwäche des religiösen und moralischen Urteilsvermögens, von der schon so viele Köpfe und Herzen infiziert sind. Kollektive Demenz ist kein Schicksal. Allerdings heißt das: Den Verstand endlich einschalten und sich nicht weiter zeitgeistergeben treiben lassen mit der großen Masse. Dem Kompaß des Glaubens unbeirrt folgen, auch wenn der Weg steinig ist und es manchmal einsam wird. Nichts wiegt das Glück auf, frei zu sein durch die Wahrheit (Joh 8,32).

Dr. Johannes Holdt ist Pfarrer in Schömberg/Baden-Württemberg.

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