VISION 20003/2021
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Hilfe zum Selbstmord ist ein Irrweg

Artikel drucken Über den Umgang mit dem Leiden am Lebensende

Die Höchstgerichte sowohl in Deutschland wie in Österreich haben den Selbstmord quasi zum Recht des autonomen Bürgers erklärt. Daher habe er auch das Recht, sich dabei helfen zu lassen – eine totale Verkehrung der bisherigen Sichtweise, die Selbstmordhandlungen als Verzweiflungstaten ansah, die möglichst zu verhindern seien. Im Folgenden eine kritische Betrachtung der neuen Rechtslage:

Nehmen die öffentlichen Debatten über aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid einen Einfluss auf die Angst der Menschen vor unerträglichem Leid am Lebensende und einem schmerzhaften Tod?
Thomas Sitte: Absolut. Natürlich beeinflussen öffentliche Debatten, wenn sie gut gemacht sind, die Zuschauer. Die Debatte über die Beihilfe zur Selbsttötung ist hochemotional, getragen von verklärenden, emotionalen Bildern, von anschaulichen Beispielen, die die Zuschauer gut mitnehmen. Natürlich denken viele dann, da muss man doch was tun. Also müssen die entsprechenden Gesetze her.

Haben die Menschen Angst oder wird ihnen Angst gemacht?
Sitte: Beides. Menschen haben Angst vor langem Siechtum, vor unerträglichem Schmerz und Leid am Lebensende. Wenn diese Angst aber medial überzeichnet wird und keine vernünftigen Lösungsmöglichkeiten geboten werden, wenn also das unter den Tisch gekehrt wird, was hier und heute zur Leidensminderung möglich ist, und stattdessen gezeigt wird, es muss Lebensverkürzung geben gegen das Leiden, übernehmen die Menschen das. Ist doch klar.

Welche Möglichkeiten gibt es denn, unerträgliches Leid am Lebensende zu nehmen?
Sitte: Was ist unerträglich, was ist erträglich? Was bedeutet das für den Einzelnen? Es gibt Situationen, da sagen wir als Palliativteam, das ist doch völlig unerträglich. Die Angehörigen verzweifeln – der Patient sagt aber: Ich komme klar. Ich will keine Hilfe, ich will keine Schmerzmittel. Das gibt es häufiger, als man denkt. Was also ist der Lebensentwurf des Patienten? Ich kann eindeutig sagen als Schmerztherapeut und Intensivmediziner: Leiden zu lindern, ähnlich wie das An- und Ausschalten oder Dimmen von Licht, das geht immer. So weit, dass ich den Schmerz tatsächlich ausknipsen kann. Genau das wird doch täglich millionenfach bei Vollnarkosen gemacht. (…) Wir können das Leid ausschalten, aber wir müssen in Kauf nehmen, dass das Bewusstsein gedämpft wird.

Wie wichtig ist das Umfeld bei der Linderung des Leides am Lebensende?
Sitte: Ein wichtiger Punkt! Medikamente sind nur das Sahnehäubchen, viel wichtiger ist das Umfeld. Viele Menschen freuen sich, dass, wenn es ans Sterben geht, auch noch die Enkelkinder auf dem Bett herumhüpfen. Dann braucht es oft sehr viel weniger Medikamente zur Linderung von Schmerzen und Unwohlsein. Das erlebe ich im Alltag häufig: Wenn die Enkel da sind, braucht man keine Medikamente. Das wird viel zu wenig genutzt: das soziale Umfeld als „Droge“. Jetzt - unter Corona - ist das ein Riesenproblem, da ist die Not groß.

Wer entscheidet über die Maßnahmen im Einzelfall, wenn diese eine Bewusst­seins­eintrübung bedeuten: Wie bespricht man das mit dem Patienten?
Sitte: Bei den allermeisten körperlichen Problemen gilt, wenn sie gelindert sind, kann man auch klarer denken. Das gilt auch für den Schmerz. Wenn ich die Schmerzen nicht mehr so stark empfinde, dann wird der Kopf wieder freier. Bei unerträglichen Schmerzen gibt allein der Patient die Richtung vor. Ich biete dem Patienten eine zur Diagnose passende Behandlung an, der dann nach Aufklärung entscheidet, wie weit er sediert, beruhigt werden will. Ich bespreche es immer so mit den Angehörigen und Patienten, dass ich eine gute, schnelle Sedierung vorschlage, damit der Patient sieht, das wirkt ja tatsächlich! Dann lasse ich ihn nach ein, zwei Tagen wieder wach werden. Da habe ich so oft gesagt bekommen, das war richtig gut – jetzt brauche ich es nicht mehr. Die Erholung trägt also weiter, wirkt nach. Vor allem ist die Sicherheit wichtig: Sie haben Angst vor Belastung, die nicht gelindert werden kann. Und wenn ich dann zeige, das können wir schnell zu Hause machen – als Notarzt mache ich das ja sogar auf der Straße –, dann wirkt das beruhigend.

Neben Schmerzen haben viele Patienten auch große Angst vor Atemnot, gerade jetzt, wo wir von vielen Patienten wissen, dass sie beatmet werden müssen.
Sitte: Die Angst vor Atemnot ist sehr groß. Ich bin auch Tauchmediziner und habe oft und lange getaucht, auch ohne Gerät. Ich habe schon schlimmste Atemnot gehabt und weiß, wie sich das anfühlt. Atemnot ist aber wirklich sehr leicht zu behandeln. Die kann man innerhalb von Minuten beispielsweise mit Opioiden per Nasenspray lindern oder ganz beseitigen. Danach haben mir viele Menschen gesagt: Warum hat das vorher keiner für mich gemacht?

Es ist also sehr viel möglich in der Palliativmedizin - aber wo lernt man das? Wo stehen wir in der Ausbildung von Palliativmedizinern?
Sitte: Noch lange nicht gut. In Deutschland gibt es etwa 15 Einrichtungen, die einen Lehrstuhl für palliative Versorgung besitzen - bei 40 deutschen Universitäten, die Humanmedizin anbieten. Man kann sich vorstellen, dass das Interesse gering ist, dieses Thema zu fördern, wenn es dafür keinen Lehrstuhl gibt. Und auch keine Exzellenzforschung, denn die ist ja an die großen Lehrstühle mit hohen Fördermitteln geknüpft. Die Studierenden gieren aber nach solchen Inhalten, sie wollen nicht nur die reine Medizin lernen, sondern auch: Wie werde ich ein guter Arzt. Und das wird im Studium nur ganz am Rande vermittelt: Gesprächsführung, Empathie, Selbstreflexion. Dort, wo Palliativmedizin gelehrt wird, ist das anders: Da spielen diese Inhalte schon eine Rolle.


Bei den vielen Patienten, die Sie begleitet haben: Gab es da jemanden, von dem Sie sagen, der hatte die „Ars Moriendi“, die im Mittelalter entwickelte Kunst des Sterbens, verinnerlicht, der ist wirklich gut gestorben?
Sitte: Ja, erst vor Kurzem hatte ich wieder so einen Patienten. Dieser Mann war schon eine Weile schwer krank, war seit langem verheiratet und mit seinem Leben völlig im Reinen. Und der hat mir und seiner Frau auf dem Sterbebett gesagt: Es war gut. Ich kann jetzt gehen. Er hatte sich lange genug angestrengt, noch am Leben zu bleiben, nun wollte er sich jetzt nicht mehr anstrengen. Dann hat er die Augen geschlossen, ab und zu geblinzelt, doch am nächsten Tag war er tot. Es gibt Angehörige, die mir hinterher sagen: Das war ein guter Tod, gerade wenn ältere Menschen gegangen sind. Aber ich habe das auch nach dem Tod von Kindern gehört. Von Eltern, die froh waren, dass das Kind nach langem Leid in Frieden gehen konnte – wenn es schon sterben musste, dann wenigstens so.

Wie autonom sind Menschen, die sich suizidieren?
Sitte: Als Mensch werde ich bei der Geburt und in vielen anderen Situationen meines Lebens nicht gefragt, ob mir das passt. Die menschliche Autonomie ist eine Pseudoautonomie. Wir sind kein Stein, der in der Wüste liegt und nichts braucht. Mein eigenes Sein wirkt auf alle anderen. Mein eigenes Sterben wirkt auf andere. Ich sterbe meinen Tod, aber mit meinem Tod müssen andere weiterleben. Zudem: Die Menschen, die sich das Leben nehmen, sind zu weit über 90% andere Menschen als die, von denen in der Debatte um den assistierten Suizid die Rede ist. Das sind nicht schwerstkranke, sterbende, leidende Menschen, sondern oft depressive Menschen, die einfach sagen, meine Lebensbilanz macht keinen Sinn mehr. Die, die mich um Hilfe bitten, fragen nicht, wie kann ich mir das Leben nehmen, sondern bitten um Tötung. Der Arzt soll mir die Spritze geben. Denn die Beihilfe zur Selbsttötung ist nicht sicher. Deswegen wird in den niederländischen Richtlinien absolut abgeraten, überhaupt Suizidhilfe zu leisten, und wenn doch, dann bitte mit Plan B.

Heißt das nicht, ein Arzt, der assistierten Suizid leistet, muss auch zur Euthanasie bereit sein, weil er sonst den mit dem Patienten geschlossenen Behandlungsvertrag gar nicht erfüllt hat?
Sitte: Das hat der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof, Professor Thomas Fischer, schon geäußert, als er zum Fernsehfilm „Gott“ von Ferdinand von Schirach befragt wurde, bei dem es um die Beihilfe zur Selbsttötung ging. In einem Nebensatz sagte er, der § 216 (Tötung auf Verlangen) müsste dann auch ergänzt werden. Bis Aschermittwoch 2020 hieß es, kein Mensch in Deutschland spricht über Tötung – und jetzt fordert Professor Fischer, der mit seiner „Spiegel“-Kolumne einer der Meinungsbildner für juristische Laien ist, der § 216 muss ergänzt werden.

Aus einem Interview mit Dr. med. Thomas Sitte, das Cornelia Kaminski für LebensForum Spezial 2021 geführt hat.  
Dr. Thomas Sitte, Jahrgang 1958, zählt zu Deutschlands bekanntesten Palliativmedizinern. Er ist ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Deutschen PalliativStiftung (DPS) und in Teilzeit im Kinderpalliativteam „Kleine Riesen Nordhessen e.V.“ tätig.


Aktion Lebensrecht für Alle

Die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V. setzt sich seit über vierzig Jahren für das Recht auf Leben aller Menschen ein. Mit der viermal im Jahr erscheinenden Fachzeitschrift Lebensforum gibt sie das einzige populärwissenschaftliche Magazin im deutschsprachigen Raum heraus, das umfassend über die Lebensrechtssituation in Europa und der Welt berichtet. Ein kostenloses Probe-Abo kann in der Bundesgeschäftsstelle per mail:
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