VISION 20005/2023
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Unterwegs in den sanften Totalitarismus

Artikel drucken Ãœber unsere Zeit, in der die Begriffe einen anderen Inhalt bekommen (Von Rod Dreher)

In seinem Buch Lebt nicht mit der Lüge! warnt der Autor Rod Dreher vor einer bedrohlichen Entwicklung, die sich in der westlichen Welt abzeichnet: dem heraufziehenden Totalitarismus. Er zielt darauf ab, die Gesellschaft einer Ideologie zu unterwerfen, die neu vorgibt, was wahr zu sein hat. An der Frage der Wahrheit entscheidet sich daher unsere Zukunft.

   
 Sowjetische Führungsgarnitur unter
 Stalin ( Moskau 1953)
 

Diejenigen, die die Verfolgung im Kommunismus überlebt haben (…) warnen uns vor einem kommenden Totalitarismus – einer Form der Regierung, die politischen Autoritarismus mit einer Ideologie verbindet, die darauf abzielt, alle Aspekte des Lebens zu kontrollieren.
Dieser Totalitarismus wird nicht dem der UdSSR gleichen. Er etabliert sich nicht mit „harten“ Mitteln wie einer bewaffneten Revolution oder unter Zwang mithilfe von Gulags. Vielmehr übt er, zumindest in den Anfängen, seine Kontrolle mit sanften Mitteln aus. Dieser Totalitarismus ist therapeutisch. Er verbirgt seinen Hass auf jene, die seine utopische Ideologie ablehnen, unter dem Deckmantel von Hilfe und Heilung.
Um die Bedrohung durch den Totalitarismus zu verstehen, ist es wichtig, den Unterschied zwischen ihm und dem einfachen Autoritarismus zu kennen. Ein Autoritarismus liegt vor, wenn der Staat die politische Kontrolle seiner Herrschaft unterwirft. Das ist eine bloße Diktatur – zweifellos übel, doch der Totalitarismus ist viel schlimmer. Nach Hannah Arendt, der führenden Erforscherin der „Formen der totalen Herrschaft“, kennzeichnet eine totalitäre Gesellschaft, dass eine Ideologie versucht, alle vorherigen Traditionen und Institutionen zu verdrängen mit dem Ziel, alle Aspekte der Gesellschaft unter die Kontrolle dieser Ideologie zu bringen.
Ein totalitärer Staat strebt nichts weniger an, als die Wirklichkeit zu definieren und zu kontrollieren. Diejenigen, die an der Macht sind, entscheiden, was wahr ist. Arendt schrieb: Wo immer der Totalitarismus herrschte, „hat er begonnen, das Wesen des Menschen zu zerstören“.
Als Teil seines Bestrebens, die Realität zu definieren, versucht ein totalitärer Staat nicht nur unsere Handlungen, sondern auch unsere Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Der ideale Untertan eines totalitären Staates ist jemand, der gelernt hat, „Big Brother“ zu lieben.
In der Sowjet-Ära forderte der Totalitarismus die Liebe zur Partei, und der Staat erzwang die Konformität mit den Forderungen der Partei. Der Totalitarismus unserer Tage verlangt Über­einstimmung mit einer Reihe von fortschrittlichen Ideen, von denen viele mit der Logik inkompatibel sind – und ganz gewiss auch mit dem Christentum. Die Konformität wird weniger vom Staat erzwungen als von Eliten, die die öffentliche Meinung bestimmen, und von Privatunternehmen, die mithilfe der Technologie unser Leben weitaus mehr kontrollieren, als wir einzuräumen bereit sind.

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Es ist durchaus möglich, den Ansturm des Totalitarismus zu übersehen, weil wir nicht richtig verstehen, wie seine Macht funktioniert. 1951 schrieb der Dichter und Literaturkritiker Czeslaw Milosz, der als antikommunistischer Dissident aus seinem Heimatland Polen in den Westen verbannt wurde, dass die Menschen im Westen das Wesen des Kommunismus nicht verstehen, weil sie dabei nur an die Begriffe von „Macht und Zwang“ denken.
„Das ist falsch,“ schrieb er. „Es gibt eine innere Sehnsucht nach Harmonie und Glück, die tiefer liegt als die gewöhnliche Angst oder der Wunsch, dem Elend oder der physischen Zerstörung zu entkommen.“
In seinem Buch Verführtes Denken schrieb Milosz, dass die kommunistische Ideologie eine Lücke gefüllt hat, die im Leben der Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts entstanden war, weil die meisten von ihnen aufgehört hatten, an eine Religion zu glauben.
Der heutige linke Totalitarismus appelliert erneut an ein inneres Verlangen, besonders an das starke Verlangen nach einer gerechten Gesellschaft, die die historischen Opfer der Unterdrückung der Vergangenheit rehabilitiert und befreit. Er präsentiert sich in Form von Freundlichkeit und dämonisiert Andersdenkende und missliebige demographische Gruppen, um die Gefühle der „Opfer“ zu schützen und so soziale Gerechtigkeit zu schaffen.

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Der sanfte Totalitarismus nutzt die Präferenz des dekadenten modernen Menschen für persönliches Vergnügen und Wohlbefinden gegenüber Prinzipien ein­schließlich der politischen Freiheiten. Die Leute werden den kommenden sanften Totalitarismus unterstützen oder zumindest nicht ablehnen, aber nicht weil sie die Verhängung grausamer Strafen fürchten, sondern weil sie durch hedonistische Annehmlichkeiten mehr oder weniger befriedigt werden.
Nicht George Orwells Roman 1984 sieht voraus, was kommen wird, sondern Aldous Huxleys Schöne neue Welt. Der zeitgenössische Sozialkritiker James Poulos bezeichnet dies als „rosa Überwachungsstaat“: eine informelle Regelung, bei der die Menschen ihre politischen Rechte aufgeben, um dafür im Gegenzug Garantien für ihr persönliches Vergnügen zu erhalten.
Der sanfte Totalitarismus nutzt (…) die moderne Überwachungstechnologie, die (noch) nicht staatlich angeordnet ist, sondern von den Verbrauchern eher als Hilfsmittel für einen bequemen Lebensstil begrüßt wird – und die auch in der Welt nach der Pandemie wahrscheinlich für das öffentliche Gesundheitswesen benötigt werden wird. Es fällt schwer, sich über Big Brother aufzuregen, wenn man sich schon an Big Data gewöhnt hat, die unser Privatleben genauestens überwachen mithilfe von Apps, Kreditkarten und intelligenten Geräten, die doch das Leben so viel einfacher und angenehmer machen.
 In Orwells fiktionaler Dystopie installiert der Staat in den privaten Wohnräumen Bildschirme, um das Leben der einzelnen Menschen zu überwachen. Heute installieren wir in unseren Häusern „Smart Speakers“, um unser Wohlbefinden zu steigern.
Und wie entwickelte sich die Maximierung des Wohlbefindens zum ultimativen Ziel der modernen Menschen und Gesellschaften? Der amerikanische Soziologe und Kulturkritiker Philip Rieff war kein religiöser Mensch, aber wenige Propheten haben in ihren Schriften scharfsinniger als er das Wesen der Kulturrevolution durchschaut, die den Westen im 20. Jahrhundert in Beschlag nahm und die den Kern des sanften Totalitarismus bestimmt.
In seinem bahnbrechenden Buch The Triumph of the Therapeutic legte Rieff dar, dass der Tod Gottes im Westen eine neue Zivilisation hervorgebracht hat, die sich auf die Befreiung des Individuums konzentriert hat, das seine eigenen Vergnügungen sucht und aufkommende Ängste damit bewältigt. An die Stelle des religiösen Menschen, der sein Leben nach seinem Glauben und den transzendenten Prinzipien ausgerichtet hat, die das menschliche Leben innerhalb des Gemeinwohls regelten, ist der psychologische Mensch getreten, der glaubt, dass es keine transzendente Ordnung gebe und dass der Sinn des Lebens darin bestehen würde, seinen eigenen Weg auf experimentelle Art und Weise zu finden. Der Mensch versteht sich nicht mehr als Pilger, der sich zusammen mit anderen auf einer bedeutungsvollen Reise befindet, sondern als Tourist, der nach seinem eigenen, selbst entworfenen Reiseplan mit dem ultimativen Ziel seines persönlichen Glücks unterwegs ist.
Diese Revolution war sogar noch radikaler als die bolschewistische von 1917, schrieb Rieff. Zum ersten Mal wollte die Menschheit eine Zivilisation schaffen, die auf der Verneinung jeglicher bindenden transzendenten Ordnung fußte. Die Bolschewiken mögen gottlos gewesen sein, aber selbst sie glaubten, dass es eine metaphysische Ordnung gibt, die erfordert, dass der Einzelne seine persönlichen Wünsche einem höheren Zweck unterordnet.
Fast ein Vierteljahrhundert vor dem Fall der Berliner Mauer sagte Rieff voraus, dass der Kommunismus nicht in der Lage sein würde, der vom Westen kommenden Kulturrevolution standzuhalten, die den Anspruch erhebt, das Individuum zu befreien, damit es den Hedonismus und Individualismus verwirklichen kann. Wenn es keine göttliche Ordnung mehr gibt, dann ist das ursprüngliche Versprechen der Schlange im Garten Eden – „Ihr werdet sein wie Gott“ – das Grundprinzip der neuen Kultur.

Auszüge aus Lebt nicht mit der Lüge (S. 26ff), siehe Besprechung Seite 19.

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