VISION 20005/2023
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In wesentlichen Fragen auch mal Klartext reden

Artikel drucken Ein wichtiger Appell in Zeiten wachsender Verwirrung (Peter Bruderer)

Wegen der starken Polarisierung unter Christen in diesen Tagen ist es schwierig, strit­tige Fra­gen anzusprechen. Man begnügt sich mit einer Schein-Harmonie, die Zeit werde zeigen, was der Wille Gottes sei… Im Folgenden eine kritische Betrachtung dieser Haltung.

   
  Papst Johannes Paul II. hat zu diesem
Thema bereits Klartext gesprochen.

Die Luft im Besprechungszimmer war ziemlich dick, als es aus einem der Anwesenden herausplatzte: „Bitte kein Blutvergießen! Halte dich an den Rat Gamaliels!“
Das war in den Tagen meines geistlichen Neu-Erwachens vor einigen Jahren. Ich hatte mich innerlich gedrängt gefühlt, bei einer kirchennahen Organisation eine Sache anzusprechen, welche mich beschäftigte. Ich hatte meinen ganzen Mut zusammengenommen, diese Sache zur Sprache zu bringen, und hatte meine Anliegen freundlich aber eindringlich vorgebracht.
Für einen der Anwesenden war klar: Peter wird möglicherweise nicht nur hinter den verschlossenen Türen dieses Sitzungszimmers reden, sondern wird seine Bedenken wohl auch öffentlich äußern. Das galt es zu verhindern! Der Mann wollte „seelisches Blutvergießen“ verhindern, welches mit öffentlich ausgetragenen Konflikten daherkommen kann. Er wollte, dass ich mich an den Rat Gamaliels halte.
Seither ist mir dieser Rat an verschiedenen Orten begegnet, gerade wieder in einem Statement des Theologen Thorsten Dietz im aktuellen Aufatmen Magazin. In einem Gespräch mit dem Theologen Stephanus Schäl über die in unseren Tagen arg gefährdete christliche Einheit lesen wir:
„Ich wünsche mir, dass man biblisch vielleicht mal mit Gamaliel sagt: Wenn das von Gott kommt, dass sich eine neue Einsicht durchsetzt, werden wir es nicht stoppen können. Wenn es nicht von Gott kommt, wird das Ganze irgendwann scheitern, wird zusammenbrechen. Jetzt gucken wir Tag für Tag und bleiben im Gespräch.“
Die Aussage macht Dietz im Zusammenhang mit Spannungen, welche sich aufgrund sexualethischer Fragestellungen in unseren Breitengraden in vielen Kirchen und Kirchenverbänden aufbauen. Die implizite Botschaft des Statements von Dietz lautet: Das „Neue“ – also die von ihm im kirchlichen Milieu eindringlich geforderte liberale Sexualethik – solle nicht bekämpft werden durch Christen, welche sich diesbezüglich zu den historischen kirchlichen Positionen stellen. Vielmehr solle man einander entspannt leben lassen, im Gespräch bleiben und schauen, welche Einsicht sich am Schluss durchsetzt. Was sich durchsetzt, ist in dieser Logik dann das Richtige, das von Gott her kommt. Ist das ein guter und weiser Rat?
Was Gamaliel genau motiviert hat, wissen wir letztendlich nicht. Aber vielleicht war der Rat des Gamaliel einfach der schlaue strategische Schachzug eines sehr intelligenten aber von eigenen Interessen geleiteten Machtmenschen. Dieser Schachzug setzt darauf, dass niemand gerne mit dem Stigma des Moralisten, des Intoleranten oder des Fundamentalisten behaftet sein will. Dieser Schachzug liefert auch gleich das theologische Argument, mit dem man sich aus der Affäre ziehen könnte: Man soll sich dem Wirken Gottes nicht in den Weg stellen. Es wird sowieso passieren, was Gott will.
Nicht zuletzt vermag dieser Schachzug die eigenen Ambitionen mit einem Kleid von angeblicher Bescheidenheit und Toleranz zu kaschieren.
Es ist interessant, dass meine Begegnungen mit dem „Rat des Gamaliel“ in den letzten Jahren ausnahmslos in Argumentationslinien von Vertretern eines liberalen, progressiven Christentums stattfanden. Diese Vertreter scheinen den Pharisäer Gamaliel mehr zu mögen als den Apostel Paulus. Das dürfte seine Gründe haben. Während Gamaliel zumindest oberflächlich gesehen als toleranter und offener Friedensvermittler daherkommt, ist ja Paulus immer wieder damit beschäftigt, Irrlehren und Sünden beim Namen zu nennen und die christlichen Gemeinschaften zu einer liebevollen, aber klaren Linie in Fragen von Theologie und Moral anzuhalten.
Paulus möchte ausdrücklich nicht, dass Christen in Schlüsselfragen nach dem Rat des Gamaliel agieren und einfach alles ohne Wertung nebeneinander stehen lassen. Paulus scheut sich nicht, den anderen Apostel Petrus frontal und öffentlich zu konfrontieren (siehe Gal 2) und grundlegend falsche Lehre als Verfluchte zu bezeichnen (Gal 1,6–9). Wo bleibt da der „Rat des Gamaliel“ bitte schön, Paulus?
Popularisiert wurde Gamaliel in den progressiven Kreisen unserer Tage wohl durch Brian McLaren. In den 2000-er Jahren war McLaren eine Leuchtfigur der sogenannten „Emergent“-Bewegung – eine Bewegung, welche auch ich als junger Leiter durchaus mit positivem Interesse verfolgte. Doch mit der Publikation seines Buches A New Kind of Christianity (2010) wurde klar, wohin bei ihm die Reise geht: In das, was der bekannte Blogger Tim Challies damals den „offenen, unverblümten und unverfrorenen Glaubensabfall“ nannte, in ein „Heidentum hinter einem dicken Mantel falscher Demut und biblischer Sprache“.
Die Botschaft von McLaren ist eigentlich: „Lasst mich einfach in Ruhe meine Lehren verbreiten, ohne diesen zu widersprechen.“
Wie schon gesagt: Die Dinge ruhig und entspannt sich entwickeln lassen, kann in gewissen Situationen angemessen sein. Der wahre Charakter einer Lehre zeigt sich oft erst mit der Zeit. Aber wo substantielle Irrlehren sichtbar wurden, war die Anweisung der Apostel nicht „Abwarten und Tee trinken“. Im Gegenteil: Die Aufforderung, falschen Lehren aktiv entgegen zu treten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Lehrbriefe des Neuen Testaments.
Nur zu oft scheint der Rat des Gamaliel ein Instrument zu sein, um bei der Gegenseite eine Passivität zu erwirken und selbst ungehindert weiter wirken zu können. Nur zu oft scheint es einfach darum zu gehen, sich mit weisen und fromm tönenden Worten den wichtigen Vorteil in einem Konflikt zu verschaffen. Deshalb rede ich auch lieber von der Gamaliel-Strategie als vom Gamaliel-Rat.
Wir mögen es, wenn uns jemand einen Grund dafür liefert, nichts zu tun und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Genau darauf baut diese Strategie. Und umso besser, wenn uns für ein solches „Laissez-faire“ noch eine fromm klingende Begründung geliefert wird.
Heute finden wir diese Strategie im Gespräch zwischen Thors­ten Dietz und Stephanus Schäl im aktuellen Aufatmen Magazin wieder in Anwendung. Darin beschwört Dietz die Weisheit Gamaliels, ruft uns zurück an die „runden Tische“. Wir sollten „einander den Glauben glauben“, „nicht mehr kaputt“ machen, einander „in Respekt“ annehmen, und so weiter und so fort.
Ich kann solch salbungsvollen Worten herzlich wenig abgewinnen. Denn andernorts nimmt Thorsten Dietz kein Blatt vor den Mund. Christen, die sich weigern, LGBT+-Lebensrealitäten in ihren Kirchen Raum zu verschaffen und gutzuheißen, haben sich gemäß seiner Überzeugung an ihnen „versündigt“.
Man kann hier von einer eigentlichen Umkehrung der Sündenlehre reden. Rechtschaffen ist bei Dietz, wer sich als Alliierter der neuen sexuellen Vielfalt in ihren verschiedenen Schattierungen engagiert. Buße und Umkehr brauchen jene, welche an „altbackenen“ Ideen festhalten, wie zum Beispiel, dass Sexualität nur in den Raum einer heterosexuellen Ehe gehöre.
Aus diesem Gespräch kommen folgende Botschaften bei mir an: „Sich gegenseitig aus­schließende Überzeugungen sind doch nur zwei Pole auf einem Spektrum! Der Weg des Todes und der Weg des Lebens sind vielleicht doch ein und derselbe! Wir haben endlich den Minimalkonsens gefunden: Es braucht gar keinen mehr! Lass uns fröhlich ein gemeinsames Kumbaya anstimmen!“
Glaubt man tatsächlich, dass dieses hübsch arrangierte aber letztendlich ungenießbare Menu von allen gegessen wird?
Hier wird der Gamaliel-Strategie auf den Leim gegangen. Und still und leise wird die Wahrheit auf dem Altar einer Pseudo-Einheit geopfert.
Es gäbe in der Bibel durchaus ein Gegenprogramm zum Rat des Gamaliel. Es ist der „Rat des Mordechai“ an seine Verwandte, die Königin Esther, angesichts von drohendem Unheil für das Volk der Juden im babylonischen Exil:
„Denn wenn du zu dieser Zeit schweigen wirst, wird eine Hilfe und Errettung von einem andern Ort her den Juden erstehen. Du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiß, ob du nicht gerade um dieser Zeit willen zur königlichen Würde gekommen bist?“ (Esther 4:14)
Krass? Ja. Aber der „Rat des Mordechai“ macht deutlich, dass es auch mal eine Zeit zum Handeln gibt, eine Zeit der Konfrontation und Klarstellung. Ja es stimmt, Gott erreicht seine Ziele. Die Frage ist aber, ob wir bereit sind, den Beitrag zu leisten, den Er uns zugedacht hat. Weil das Böse nur zu gerne Ambiguität zu seinem Vorteil ausnutzt, muss man sich dieser auch mal entgegen stellen. Zum Beispiel, indem man sich von der gemeinsamen Selbstbelügung verabschiedet bezüglich einer Einheit, welche eigentlich nicht gegeben ist.
Deshalb mein Rat an dich und mich: Das nächste Mal, wo dir der Rat des Gamaliel nahegelegt wird, sei wachsam: Könnte dies ein Signal für dich sein, endlich aufzustehen? Könnte es an der Zeit sein, dem „Rat des Mordechai“ zu folgen und mit Demut, aber Entschlossenheit eine nötige Konfrontation, einen nötigen Kampf zu führen, deinem Herrn Jesus Christus und seiner Wahrheit zuliebe?

Der Autor ist Blogger und Mitarbeiter von ERF Medien, sein Text ein Auszug aus „Die Gamaliel-Strategie“  siehe danieloption.ch  
v. 25.8.23
https://danieloption.ch/featured/die-gamaliel-strategie/?


 

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