VISION 20005/2023
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Wertfreie Politik – eine Illusion

Artikel drucken Gedanken über die Aufgabe christlicher Politiker (Von Kardinal Péter Erdö)

Gute Wissenschaftler und erfolgreiche Politiker gab es und gibt es nicht wenige in der Welt. Aber bekennende Christen, welche versuchen, diesen Verantwortungen aufgrund ihrer christlichen Identität zu entsprechen, sind in der heutigen Welt eine echte Rarität. Ein Zeichen gegen die politisch korrekt gewordene Gesellschaft!

    
Verleihung des Thoma-Morus-
Preises
in an Rocco Buttiglione
 

Gestatten Sie mir eine persönliche Erinnerung. Mein Vater war Jurist im kommunistischen Ungarn. Er ist vor der Wende von 1989-1990 gestorben. Er konnte seinen Beruf nie ausüben. Er beschäftigte sich nie mit der Politik, er war aber zu religiös. Meine Mutter war Lehrerin und sie durfte nicht unterrichten. Sie war natürlich auch zu religiös. Als ich mit 18 Jahren als Priesterkandidat aufgenommen wurde, lebte mein eigener Diözesanbischof, der Diener Gottes Kardinal Josef Mindszenty, als Flüchtling in der amerikanischen Botschaft.
Wir Seminaristen mussten in einer Kriminellendivision Militärdienst leisten. Als wir zum Militärdienst eingezogen wurden, lautete eine der ersten Fragen: Wie viele Male wurden Sie bestraft – und wegen welches Verbrechens? Dass man vielleicht nicht vorbestraft sein könnte, kam überhaupt nicht in Frage. Und alle diese Situationen haben wir als einigermaßen natürlich empfunden. Wir waren schließlich Christen, sogar Priesterkandidaten.
Die Beschreibung eines ähnlichen psychischen Zustandes habe ich später im Roman eines Schicksallosen des Nobelpreis­trägers Imre Kertész entdeckt. Nach verrückten Situationen, die er im Laufe des Holocaust erlebt hatte, wiederholt er hartnäckig, wie eine Litanei, das Wort „natürlich“. Es war allerdings nicht mit der natürlichen Ordnung der Welt in Harmonie, es schien nur im Zusammenhang mit einer verrückten Gesellschaft klar und folgerichtig, sozusagen: „natürlich“.
Wenn Papst Franziskus sagt, dass wir in einer Epoche der großen Wende leben, trifft diese Feststellung völlig zu. Ähnliche Änderungen fanden in der Geschichte der Kirche auch früher statt.
In den ersten christlichen Jahrhunderten haben die christlichen Texte weniger darüber gesprochen, wie die weltlichen Machthaber politisch vorgehen sollen. Eine kohärente, umfassende christliche Soziallehre sucht man in jener Zeit vergebens. Man findet aber Verbote, wenn es darum geht, wer getauft werden kann. In der Traditio Apostolica am Anfang des III. Jahrhunderts lesen wir z.B., dass einer, der Gewalt über Leben und Tod hat, oder der höchste Magistrat einer Stadt ist, entweder damit aufhören soll oder nicht getauft werden darf (Traditio Apostolica XVI, 9). Dies versteht sich natürlich im Zusammenhang mit dem heidnischen Römischen Reich.
Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass das Römische Reich entweder heidnisch oder christlich (konstantinisch) war. Trotz kürzerer Perioden der relativen Toleranz und lokaler Möglichkeiten des Überlebens war eine echte religiöse Neutralität des Staates in den alten Zeiten kaum denkbar. Man fühlte ja das Bedürfnis, eine umgreifende Weltanschauung als Grundlage des staatlichen Lebens zu haben.
In den jüngsten Zeiten scheint man weitgehend die Illusion zu haben, dass das Leben der Gesellschaft keine große Ideologie oder Überzeugung braucht; und auch das Recht scheint nicht so sehr die Funktion zu haben, Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten, sondern eher, entgegenstehende Interessen und Bestrebungen – unabhängig von ihrem Inhalt – in ein Gleichgewicht zu bringen. Solche Auffassungen über Staat und Gesellschaft setzen nicht unbedingt ein Projekt, eine Vorstellung von der Zukunft oder der gesamten Welt voraus.
Wünsche und Meinungen ändern sich aber oft, wie das Wetter. Diese Änderungen brauchen nicht logische Begründungen, sondern sind oft Folgen von verschiedenen audio-visuellen und anderen manipulativen Effekten. Man reagiert oft, ohne zu denken. So kann die Frage gestellt werden: Wo bleiben dann die Wahrheit und die menschliche Freiheit in diesem Prozess?
Rocco Buttiglione schreibt darüber: „Um ein guter Berater des souveränen Volks zu sein, muss ein Staatsmann sich nicht fürchten, gegen den Strom zu schwimmen. Um ein Staatsmann zu werden, genügt es nicht, die Meinungsumfragen zu lesen und den Leuten das zu sagen, was sie gerne hören wollen. Meinungsumfragen spiegeln nicht den echten Willen des Volkes wider, sondern nur die oberflächlichen Neigungen einer Masse von weitgehend uniformierten Menschen. Nur wenn das Volk mit der Wahrheit konfrontiert wird und ausführlich informiert ist, kann es sich entscheiden und den eigenen Willen bestimmen. Ansonsten kann man vielleicht Wahlen gewinnen, ist aber nicht imstande, anschließend zu regieren.“ Man sieht also, welch große Aufgabe es ist, mit christlichen Überzeugungen eine leitende Position in der Politik anzunehmen.
In den letzten Jahren ist aber nicht nur die gesellschaftliche Seite des Problems kritisch geworden, sondern es stellt sich wieder einmal auch die Frage: Was bedeutet es, ein Christ zu sein? Ist es eine bloß wohlwollende menschliche Einstellung, eine Bestrebung, die Welt um uns herum zu beobachten – zu suchen, was logisch, was allgemein annehmbar, vielleicht sogar was bequem oder tröstlich ist?
Oder sind wir als Christen Jünger Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, dessen Lehre konkrete Wahrheiten enthält, die aus den Büchern des Neuen Testaments und aus anderen Quellen im Lichte der Tradition erkennbar ist und die uns auch Befreiung und Heil bringen kann? Außerdem vertrauen wir dem menschlichen Verstand. Wir denken auch, dass das sogenannte Naturrecht selbst unter den sich wandelnden Umständen der Menschheit erkennbar ist und sind dennoch nicht einfach nur Naturphilosophen, sondern Jünger Christi.
Der gläubige Christ ist eine souveräne Persönlichkeit. Die Annahme des christlichen Glaubens ist eine menschliche Handlung, ein Actus Humanus. Sie ist gleichzeitig ein Geschenk der göttlichen Gnade.
Dies wurde im konsequenten sittlichen Handeln und im Martyrium des heiligen Thomas Morus sichtbar. Die Nachfolge dieses großen Beispiels ist auch heute möglich. In diesem Sinne bedanken wir uns bei Professor Rocco Buttiglione für sein Bekenntnis und seine Konsequenz und gratulieren ihm von ganzem Herzen zum Thomas–Morus–Preis.

Der Autor ist Erzbischof von Eszter­góm, sein Beitrag ein Auszug aus seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Thomas-Morus-Preises an Prof. Dr. Rocco Buttiglione am 23. Juni 2023 in Heiligenkreuz.


 

Der Thomas-Morus-Preis des Alten Ordens von St. Georg

   
   

Der Alte Orden vom St. Georg setzt sich seit Jahrhunderten für die Stärkung des Christentums und ritterliche Tugenden ein und ist bemüht, gegen die „acht Elende“: Krankheit, Verlassenheit, Heimatlosigkeit, Hunger, Lieblosigkeit, Schuld, Gleichgültigkeit und Unglaube anzukämpfen.
Zum zweiten Mal verlieh der Orden heuer den Thomas Morus Preis. Ausgezeichnet werden Personen aus dem öffentlichen Leben, die „glaubwürdige Vorbilder für sittliches Verhalten, Mut in Wort und Handeln, sowie für gerechte, konsequent selbstlose Entscheidungen sind.
Der heurige Preisträger ist Prof. Dr. Rocco Buttiglione, Philosoph, ehemals italienischer Minister und später Ex-Europa-Abgeordneter.  2004 von Italien als Mitglied der EU-Kommission nominiert, wurde er wegen seiner Aussagen zum Thema Homosexualität von einem EU-Ausschuss abgelehnt, worauf er auf das vorgesehene Amt des Vizepräsidenten der EU-Kommission verzichtete.


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