VISION 20003/1999
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Vergeben bringt Befreiung

Artikel drucken Kein Zusammenleben ohne Verzeihung (Christof Gaspari)

Es tut gut zu erfahren, daß Vergebung auch in Extremsituationen, wie sie in Ruanda oder im Libanon herrschten, möglich ist. Eine Ermutigung, Schritte des Vergebens auch im Alltag zu setzen. Denn in Familie, Beruf und Nachbarschaft gibt es kein Zusammenleben ohne fortgesetztes Verzeihen.

Man muß vergeben können - wer würde dieser Feststellung nicht beipflichten. C.S. Lewis hat einmal sinngemäß gesagt: Jeder findet, Vergebung sei eine großartige Sache, bis zu dem Moment, wo er selbst zu vergeben hat. Auch ist es keineswegs so, daß man jenen leichter vergibt, die einem besonders nahestehen.

Warum? Weil sie auch jene Menschen sind, die uns am meisten zu kränken, ja zu verletzen vermögen. Von ihrer Haltung, ihren Worten hängt ein wichtiger Teil unseres Selbstwertgefühls ab. In einer vertrauten Beziehung haben daher schon die Kleinigkeiten eine große Bedeutung. Im Umgang mit vertrauten Menschen ist die Verletzungsgefahr besonders groß und Heilung besonders schwierig.

Dem Mann in der Straßenbahn, der mich angerempelt und dann auch noch mit unfreundlichen Worten bedacht hat, verzeihe ich relativ leicht. Er stellt mein Selbstwertgefühl nicht wirklich auf die Probe. Eher habe ich da das Problem, einen kurzfristig aufwallenden Ärger zu beherrschen. Aber wenn mich meine Frau oder ein guter Freund anfährt, wiegt der Affront viel schwerer. Da steht mehr von meiner Person auf dem Spiel.

Je größer die Verletzung, je stärker die ausgelösten Selbstzweifel, umso schwieriger wird es zu vergeben. Wer durch eine Kränkung vor den Ruinen seines Lebens zu stehen vermeint, dessen Kräfte sind voll darauf konzentriert, nicht total abzustürzen. Da fehlt dann die Kraft, auf den anderen zuzugehen. In Gedanken kreist man fortgesetzt um dieselben Probleme und Fragen. Immer wieder landet man bei denselben Überlegungen, ist fixiert auf die Person, die einen verletzt hat. Es entsteht eine enorme Unfreiheit, eine Einengung des Interesses.

Wer aus einer solchen Enge durch die Vergebung herausgeführt worden ist, erfährt, welche eigene Befreiung mit dem Verzeihen verbunden ist. Da ist keine Rede mehr von einer großzügigen Geste dem anderen gegenüber. Die alles dominierende Erfahrung ist die eigene Befreiung. Tonnenschwere Last fällt plötzlich von den eigenen Schultern.

Ich habe eine solche Befreiung erlebt und werde sie nie vergessen: In einem wesentlichen Bereich meines Lebens hatte ich eine schwere Verletzung abbekommen. Seit Monaten hatte ich einen großen Unfrieden in mir. Eine tiefe Verunsicherung hatte in mir Raum gewonnen. Vor meinem geistigen Auge rollten immer wieder dieselben Szenen ab. Endlos wiederholte ich in Gedanken dieselben fiktiven Dialoge, landete bei denselben Vorsätzen, um sie im nächsten Augenblick wieder zu verwerfen. Eine Qual!

Zwischendurch immer wieder die Versuche, Gott die ganze Misere zu übergeben, Ihn zu bestürmen. Ein Hin und Her zwischen Hoffnung und der resignierten Feststellung: Es nützt ohnedies nichts. Da mußt du alleine durch.

Und dann der befreiende Moment: Ich schaue lustlos aus dem Zugfenster, in 20 Minuten werden wir in Klagenfurt ankommen. Mit einem Schlag hat Gott mir alle Last von den Schultern genommen. Der Alptraum war verflogen. Die Sache war vergeben, die Wunde geheilt, der Geist frei. Und ich hatte wieder Augen für die Schönheit der Landschaft, die Sonne am Himmel, die Gesichter der Mitreisenden. Was für eine Freude!

Zugegeben: Nicht jede Vergebung spielt sich so ab. Vieles bedarf der langsamen Reifung, geht Schritt für Schritt vor sich. Aber zwei Lehren habe ich aus der Erfahrung gezogen: Es ist Gott, der mir die Kraft zu vergeben schenkt. An Ihn muß ich mich wenden. Und das zweite: Vergeben zu können, wirkt enorm befreiend.

Warum aber ist das Vergeben dennoch so schwierig? Weil es eine fortgesetzte Herausforderung im Alltag darstellt, sind wir doch alle Menschen mit Schwächen und Verletzungen, die im anderen eher Halt und Stütze suchen und nur beschränkt bereit sind, dessen Lasten mitzutragen. Und das führt zu laufenden Reibereien, kleineren und mittleren Kränkungen und Verletzungen.

Wer es da verabsäumt, diese scheinbar unbedeutenden Verletzungen zu vergeben, der läuft Gefahr in einer Verhärtung zu landen, aus der nur schwer herauszufinden ist. Denn die Liebe wächst eigentlich im alltäglichen Vergeben der vielen kleinen Kränkungen, die wir einander ununterbrochen zufügen. Wird dieses Verzeihen verweigert oder gedankenlos verabsäumt, so baut sich Stein für Stein eine Trennwand zwischen den Menschen auf: Der Ärger über die nicht weggeräumten Schuhe, die regelmäßige Unpünktlichkeit, den morgendlichen Grant, das knappe Auffahren in der Autokolonne...

Vergeben heißt bereit zu sein, die Lasten des anderen mitzutragen. Wieviele Ehen blühen einfach deswegen nicht auf, weil die Partner einander in ihrem Inneren dauernd etwas vorzuwerfen haben? Hinter der Fassade routinierten Zusammenlebens steht der andere in einem Daueranklagezustand.

Da fehlt es an der Bereitschaft, sieben Mal siebzig Mal zu verzeihen - selbst wenn vieles dafür spricht, daß sich das Verhalten des anderen nicht entscheidend ändern wird.

Vergebung ist damit ein Geschehen, das Raum für die Hoffnung eröffnet, daß sich die Menschen wider Erwarten ändern können. Sie sperrt den anderen nicht in seinem Fehlverhalten von gestern und heute ein, sondern erschließt ihm Perspektiven auf ein neues Morgen. Und sollte sich auch dieses Morgen als Rückschlag erweisen, so wird die Vergebung von Morgen, Chancen auf ein besseres Übermorgen offenhalten.

Das klingt wie eine Utopie, nicht wahr? In unserer stark psychologisierenden Zeit sind wir daran gewöhnt, Rechtfertigungen für unser Handeln - auch wenn es verletzend ist - ins Treffen zu führen. Erklärungsmodelle werden konstruiert, um nicht von Schuld sprechen zu müssen. Es fehlt das Vertrauen, daß der barmherzige Vater nichts sehnlicher wünscht, als uns unsere Schuld zu vergeben. Sie muß nur einbekannt werden. In wievielen Beichten wird eher eigenes Verhalten erklärt, als Schuld bekannt und bereut. Ich weiß, wovon ich rede.

Und Gleiches geschieht im Umgang miteinander: Bestenfalls erklären wir dem anderen, warum wir uns so und so verhalten haben, aber wir bekennen unsere Schuld an seiner Verletzung nur selten ein. Damit aber machen wir ihm das Vergeben schwer, ladet doch unsere Rechtfertigung die Schuld an der Verletzung auf den Gekränkten ab. Er hätte sich nicht so leicht aus der Fassung bringen lassen und mehr die Motive für mein Handeln bedenken sollen.

Aber woher die Kraft zu all dem nehmen? Eine berechtigte Frage, auf die es letztlich nur ein Antwort gibt: Nur der barmherzige Gott kann die lähmende Schuld von uns nehmen und uns immer wieder neu beleben. Er ist es, der diese Vergebung in uns wirken kann und will. Erst die immer wieder neu geschenkte und angenommene Vergebung läßt in der Liebe wachsen. Sie vermittelt die Erfahrung, daß Krise bewältigt werden können. Dann stellen wir fest, daß wir mit unseren Schwächen nicht nur von Gott, den wir nicht sehen, angenommen sind, sondern auch von unseren Nächsten. Und wir ahnen etwas von der Wahrheit unserer Existenz: Es ist gut, daß es dich gibt.

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