VISION 20002/2002
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Hildegard Burjan

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Helmut Hubeny)

Am 30. Jänner 1883 wird Hildegard Lea Freund in Görlitz an der Neiße (im damaligen Preußisch-Schlesien) geboren. Hildegard ist die zweite und letzte Tochter einer jüdischen, völlig konfessionslosen Mittelstandsfamilie. Ihr Vater Abraham Adolph ist Kaufmann, ihre Mutter Berta, geborene Sochaczewska, eine sehr gebildete Frau. An ihr und ihrer Schwester Alice hängt Hildegard mit großer Liebe.

Zur Schule geht Hildegard in Görlitz, Berlin und Zürich. Sie maturiert 1903 in Basel mit Auszeichnung. Danach erbittet sie von den Eltern die Erlaubnis zum Philosophie-Studium an der Universität Zürich - damals für Mädchen ein ziemlich ungewöhnlicher Wunsch.

Aus der Philosophie ihrer Professoren Friedrich Foerster und Robert Saitschik schöpft sie mächtige Impulse in ihrem Suchen nach dem Sinn des Lebens und kommt so dem Christentum immer näher. Um ihre Entscheidung unbeeinflußt von ihrem bewunderten Lehrer Saitschik zu treffen, geht sie nach Berlin. Mich berührt die konsequente Suche nach einer Antwort auf die brennende Sinnfrage, die auch zu meiner Jugend gehörte.

In Berlin belegt Hildegard Sozialpolitik und Nationalökonomie. Gleichzeitig erwirbt sie all jene Kenntnisse, die der Verstand aus der Lehre Christi erfassen kann, aber sie spürt, daß etwas außerhalb der eigenen Möglichkeiten fehlt - Gnade! So prüft sie sich jahrelang mit der ihr eigenen Gründlichkeit.

Hildegard lernt den Ingenieurstudenten Alexander Burjan kennen, ebenfalls von jüdischen, völlig religionslosen Eltern abstammend und ebenfalls auf der Suche nach tiefem Lebenssinn.

Bald beschließen die beiden, den weiteren Lebensweg gemeinsam zu gehen, trotz stürmischer Proteste der Eltern. Der junge ETH-Ingenieur Alexander bekommt 1905 seine erste Anstellung in Berlin. Dort feiert das junge Paar seine Verlobung, zwei Jahre später die Vermählung.

Hildegard legt nach Annahme ihrer Dissertation 1908 ihre Doktorprüfung ab. Die Promotion ist allerdings nie formell rechtskräftig geworden, weil Hildegard die gedruckten Pflichtexemplare ihrer Dissertation nicht abgeliefert hatte.

1908 erfährt Hildegard in lebensbedrohender Krankheit das selbstlose Wirken geistlicher Schwestern. Ihrer späteren Taufpatin erzählt sie: “So etwas wie diese Schwestern kann der natürliche, sich selbst überlassene Mensch nicht vollbringen. Foerster und Saitschik konnten mich nicht überzeugen, aber da habe ich das Wirken der Gnade erlebt, so kann mich auch nichts mehr zurückhalten".

Aus einer unerklärlichen Heilung zieht Hildegard die erschütternde Folgerung: Dieses zweite Leben muß ganz Gott gehören! Würden wir unsere Berufung auch so klar erkennen und ihr so konsequent folgen?

1909 wird Hildegard getauft. Alexander Burjan tritt bei der Österreichischen Telefonfabrik AG ein, deren späterer Generaldirektor er wird. Im selben Jahr übersiedelt das junge Paar nach Wien, in den Glanz und in die Not der Lueger-Zeit. Hier schenkt die junge Frau 1910 ihrer Tochter Lisa in schwerer Geburt das Leben. Vier Tage davor konvertiert der junge Vater zur großen Freude seiner Frau.

Die intellektuellen Neigungen Hildegards machen es ihr nicht leicht, sich in die Pflichten als Hausfrau und Mutter hineinzufinden. Lisa wird als typisches Einzelkind aufwachsen, im Internat leben, sich vergebens nach Zärtlichkeit sehnen und “schwierig" werden, von der Mutter zur Heirat mit einem “anständigen" Mann gedrängt, die Annullierung ihrer unglücklichen Ehe erleben und Jahrzehnte ihres Lebens rastlos bleiben. Hildegard wird auf dem Totenbett einbekennen: “An Lisa habe ich versagt" - ein Gefühl, das heute manche berufstätigen Mütter mit ihr teilen.

In Wien trifft Hildegard Burjan auf engagierte Gruppen innerhalb der Kirche, die sich mit den brennenden Fragen der industriellen Ausbeutung auf Basis der Sozialenzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII auseinandersetzen. Wohlhabende Christen engagierten sich caritativ. Den Sozialdemokraten war dies eher ein Dorn im Auge, sie wollten keine “Almosen", sondern Gerechtigkeit und die Abschaffung der Knechtschaft.

Wir wissen heute, wie wichtig beides ist: an unserer modernen Sozialgesetzgebung muß ständig weitergearbeitet werden, und die Caritas hat noch immer genug zu tun. Hildegard bekennt: “So vielseitig und mühevoll auch die Versuche sind, diesen vielen Problemen beizukommen, es gibt eine Lösung - und es kann nur eine geben - und diese ist ausgedrückt durch das Wort ’Christus'."

Auch ich wünsche mir heute, daß der Gerechtigkeit weltweit endlich zum Durchbruch verholfen wird, um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich auf unserem Planeten zu verringern. Umso mehr, als neoliberale Egoisten uns die Segnungen eines globalen Turbokapitalismus als einzig wahre Lösung aufzwingen wollen.

Frau Burjan setzt aufrüttelnd bei der größten Not an, bei der unglaublichen Ausbeutung von Heimarbeiterinnen und Kindern: “Wie können wir zulassen, daß in unserem Jahrhundert der Humanitätsduselei tausende von Kindern in Schmutz und Elend verkommen?" Sie gründet Frauenvereine, organisiert Lebensmittel und Beschäftigung. Und immer wenn sie sieht, daß die betroffenen Frauen und ein guter Mitarbeiterstab in der Lage sind, den Verein selbst zu führen, zieht sie sich zurück. Was gelungen war, gibt sie ab, um wieder frei zu sein für neue Aufgaben. Dieser Stil könnte auch uns vor kirchlicher G'schaftlhuberei bewahren.

In den Umsturztagen 1918, als die Frauen durch das neue Allgemeine Wahlrecht so unerwartet und plötzlich ins politische Leben berufen werden, engagiert sich Hildegard Burjan in der Christlichsozialen Partei
Wiens, im Wiener Gemeinderat und als erste und einzige Abgeordnete in der konstituierenden Nationalversammlung.

Schwere Gewissenskonflikte stellen sich ein - Klubzwang, bedrohte Gesundheit, Verpflichtung gegenüber Ehemann und Kind, antisemitische Strömungen in der christlichsozialen Partei... Ihre seelische Verfassung ist nicht robust genug für die kämpferische Ära der ersten Republik. 1920 nimmt sie Abschied von der Politik. Ob es in der zweiten Republik für Christen wohl leichter ist?

Die Arbeit am Aufbau einer Schwesterngemeinschaft zeichnet sich immer klarer als ihre Lebensaufgabe ab. Am 24. Oktober 1918 versammeln sich etwa 50 Frauen, denen Ignaz Seipel die von Dr. Burjan verfaßten “Leitsätze der Vereinigung Caritas Socialis" vorlegt.

Aus dem gemeinsamen Bemühen wächst eine tiefe Freundschaft zwischen Hildegard Burjan und Seipel bis zum Tod des späteren Bundeskanzlers. Hildegards Einsatz für den Bau der Seipel-Gedächtniskirche in Wien-Fünfhaus ist ein Zeugnis dafür.

Bald nach Gründung der “Caritas Socialis" treten materiell unabhängige, unverheiratete Frauen an Hildegard heran, im unbedingten Vertrauen bereit, soziale Aufgaben zu übernehmen. Spiritual August Schaurhofer steht ihnen zur Seite. Manche Orden bemühen sich um die neue Gemeinschaft. Doch der Wiener Erzbischof Kardinal Friedrich Piffl wünscht sich die Schwesterngemeinschaft nicht als Kongregation, sondern als bewegliche “Stoßtruppe der Kirche".

Hildegard ist ein ausgesprochenes Führungstalent, energisch, mutig, begeisternd und durchsetzungsfähig. Nur mit exakter Zeiteinteilung kann sie das riesige Arbeitspensum meistern. Die Abende, falls sie nicht von gesellschaftlichen Verpflichtungen belegt sind, gehören ihrem Mann. Eine Lebensweise, die uns sehr nahe steht.

Hildegard Burjan fühlt sich, wenige Wochen nach ihrem 50. Geburtstag, am Ende ihrer Kräfte. Ihr Mann ermutigt sie: “Hilderl, wir fahren zu Pfingsten nach Salzburg. Das wird Dir gut tun".

Doch die Reise muß abgebrochen werden, sie kommt ins Spital, wird operiert. Alle Ängste und Sorgen fallen von ihr ab: “Ich habe die Caritas Socialis Gott übergeben. Gott wird sie führen". Sie stirbt am Dreifaltigkeitssonntag, dem 11. Juni 1933.

Hildegard Burjan zählt zu den wegweisenden Persönlichkeiten der Neuzeit. Sie ist als Frau ihren Weg in einer männlich orientierten Gesellschaft und Kirche unbeirrt gegangen. “Die Liebe Gottes durch den sozialen Dienst verkünden," wurde für sie zu ihrem Lebensprogramm. Ihr Seligsprechungsprozeß ist derzeit im Gange.

Ich habe dessen Gültigkeit selbst erlebt, als meine Schwiegermutter im vorigen Jahr von CS-Schwestern auf ihrem letzten Lebensabschnitt im Pflegezentrum der Caritas Socialis liebevoll begleitet worden war.

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