VISION 20002/2006
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Der Lebensentwurf der Neuzeit scheitert vor unseren Augen

Artikel drucken Europas große Chance: eine Erneuerung des Glaubens an Jesus Christus

Wer die Berichte in den Medien verfolgt, mit offenen Augen durch die Welt geht, nicht aufgrund rosiger Prognosen in Optimismus schwelgt, hat Grund zur Sorge. Unter der glitzernden Oberfläche materiellen Wohlstands breitet sich vielfach großes Elend aus.

Da sind die zerbrechenden Beziehungen, die wenigen Kinder, die zur Welt kommen und die vielen, die im Mutterschoß getötet werden, da ist die wachsende Zahl von Armen, einsamen Alten, entwurzelten Jugendlichen, Arbeitslosen, da mehren sich Einbrüche, Attentate, Meldungen über den steigenden Einfluß von organisierter Kriminalität und internationalem Terrorismus: Symptome einer sich auflösenden Ordnung.

Das Unbehagen wächst - und das Gefühl der Ungeborgenheit. Die Menschen entfliehen dieser diffus bedrückenden Realität, die sich mitten in der Wohlstandsgesellschaft eingenistet hat, in die Shopping-, Wellness- oder Aktivurlaubwelt. Andere suchen Zuflucht bei Alkohol oder Drogen, verschleißen sich im Arbeits- und Konsumstreß.

Zugegeben: Das betrifft nicht jedermann und nicht zu jeder Zeit. Aber kaum jemand kann sich dieser veränderten Grundstimmung entziehen. Tatsächlich hat sich nämlich in den letzten Jahrzehnten das Klima des Zusammenlebens verändert. Wer Filme aus den frühen sechziger Jahren sieht, blickt in eine nahezu fremde Welt.

Damit will ich keineswegs die guten alten Zeiten beschwören. Durchaus nicht. Es sind die Fehlhaltungen, die Irrlehren der letzten Jahrhunderte, die wir heute in ungeahnter Radikalität und großflächig zu spüren bekommen. Was wir jetzt erleben, ist die an die Basis reichende Auflösung der christlichen Ordnung, auf der das Zusammenleben der Europäer ruht. Es sind die seit Beginn der Neuzeit propagierten Heilslehren, die heute konsequent verwirklicht werden.

Der Philosoph René Descartes hat das Programm der Moderne schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts formuliert. Es gehe darum, “die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne und aller anderer Körper, die uns umgeben, kennenzulernen, sodaß wir sie zu allen Zwecken ... verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen." Unbeschränkte Aneignung, grenzenlose Verfügungsmacht, alles vermessen und nutzbar machen - auch den Menschen, den Descartes als “Gliedermaschine" bezeichnete.

Das Projekt scheint gelungen zu sein, denn genau das geschieht heute. Die Macht der Menschheit hat ein unfaßbares Ausmaß erreicht: Satellitenbeobachtung, Atomkraft, Nanotechnologie, Raumfahrt, Computertechnologie - ein gigantisches Instrumentarium, das laufend erweitert und verbessert wird und die Möglichkeiten des Herrschens erweitert.

Wer aber herrscht? Das Volk, der mündig gewordene Mensch, wird uns gesagt, jedenfalls seit der französischen Revolution. Damals formulierte Emmanuel Joseph Sièyes, einer der Hauptakteure des Umsturzes: “Die Nation ist nicht nur keiner Verfassung unterworfen, sondern sie kann es nicht sein, sie darf es nicht sein... Eine Nation kann auf irgendeine Weise wollen, es genügt daß sie will; alle Formen sind gut, und ihr Wille ist immer das oberste Gesetz." Er bezieht sich da auf Jean Jacques Rousseaus Wort: “Der allgemeine Wille ist immer rechtschaffen und strebt stets den öffentlichen Nutzen an." In Österreichs Verfassung findet dieses Denken dann im Artikel eins “Alles Recht geht vom Volk aus" seinen Niederschlag. Der Mensch als absoluter Herrscher.

Klar, daß es nicht der einzelne ist, der hier das Ruder in die Hand nimmt. Die Macht des Volkes wird durch eine - mehr oder weniger demokratisch legitimierte - Elite ausgeübt. Näher zu untersuchen, an wen diese Macht tatsächlich delegiert wird, ist hier nicht mein Anliegen. Festhalten möchte ich nur, daß unser Denken von der absoluten Souveräntität des Menschen geprägt ist. Er herrscht allein, er allein gibt Spielregeln vor, ist niemandem verantwortlich, ist selbst das Maß der Dinge.

Damit aber stehen wir vor einer neuen Situation: einer Gesellschaft, die Gott aus dem Leben ausgemerzt hat (siehe auch die Aussage Benedikt XVI. zitiert auf Seite 7). Wo immer für die Allgemeinheit gedacht, gehandelt und entschieden wird, spielt Gott keine Rolle. Ohne Gottesbezug beschließt die pluralistische Gesellschaft ihre Gesetze, fällt sie ihre Gerichtsurteile, gestaltet sie ihren Schulunterricht, organisiert sie ihre Wirtschaft...

Dieser Zugang wäre vertretbar, wenn der Mensch tatsächlich Herr der Natur wäre, wenn er alles erschaffen und damit den perfekten Durchblick in der Schöpfung hätte. Wer den Bauplan eines komplizierten Gebildes kennt, kann dieses auch umbauen. Aber in dieser Situation befindet sich die Menschheit nicht. Sie ist in das Werk eines Größeren hineingestellt, in die Schöpfung des allmächtigen Vaters, der diesem Werk eine grandiose Ordnung verliehen hat, deren Funktionsweise selbst die explosiv ausgeweitete Forschung der letzten 100 Jahre nur peripher durchschaut. Denn jede neue Einsicht stellt den Forscher vor neue Geheimnisse.

Nun wird aber langsam erkennbar, daß die Vorstellung von der Herrschaft des Menschen über die Natur ein Irrtum war, denn die großräumigen, massiven Eingriffe in die Schöpfung beginnen sich zu rächen. Umweltprobleme mehren sich auf lokaler wie globaler Ebene. Die Versicherungswirtschaft bekommt in ihren Bilanzen die wachsende Katastrophenträchtigkeit des Planeten infolge überzogener menschlicher Eingriffe zu spüren. Ich erspare Ihnen eine Auflistung.

Noch schwerer wiegen aber die negativen Folgen der Neuordnung der Gesellschaft für den Menschen. Auch dieser verträgt nicht alles, was ihm das moderne, genormte Leben zumutet. Er ist eben kein austauschbares Rädchen in der gesellschaftlichen Maschinerie. Man kann ihm nicht beliebig Flexibilität, Entscheidungszwang, Mobilität, Streß, Umstellung auf Neues zumuten. Früher oder später reagiert er oder sie mit körperlichen oder seelischen Problemen, mit Depression, Teilnahms- und Interesselosigkeit oder mit Aggressivität gegen andere oder sich selbst.

Europa weist all diese Symptome auf. Die zusammenbrechende Geburtenfreudigkeit ist wohl der deutlichste Hinweis darauf, daß wir einem Lebensstil frönen, den weiterzugeben sich nicht lohnt.

Damit sind wir am Kern des Problems. In seiner Rede über die Endzeit, nennt der Herr Jesus es beim Namen: “Und weil die Mißachtung von Gottes Gesetz überhandnimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten." (Mt 24,12) Das die Wirtschaft voranpeitschende Konkurrenzprinzip wird zum Leitmotiv. Eine Mentalität des “jeder für sich", des “rette sich, wer kann" macht sich breit. Der Wettlauf um Lebenschancen zerstört sogar den Intimraum des Zusammenlebens: Frau gegen Mann, Eltern gegen Kind, Jung gegen Alt. Die Liebe erkaltet.

Der Ausweg? Papst Benedikt XVI. hat ihn mit seiner ersten Enzyklika gewiesen: “Deus caritas est", Gott ist die Liebe. Europa stirbt an überhandnehmender Lieblosigkeit und wird nur überleben, wenn es sich neu für Gott, der die Liebe selbst ist, öffnet.

Es geht um den barmherzigen, liebenden Gott, der in Jesus von Nazaret vor 2000 Jahren Mensch geworden ist, nicht um irgendeine selbstgebastelte Gottheit. An Jesus Christus wird sich alles entscheiden. Auf Ihm, dem Gott Vater, die Herrschaft übergeben hat, ruht unsere Kultur. Ohne Ihn muß sie zugrunde gehen. Nur Er kann sie erneuern.

Das bedeutet nicht etwa Missionierung mit Feuer und Schwert, auch nicht Machtübernahme durch den Klerus oder gesetzliche Verordnung von Zucht und Ordnung. Europa braucht eine Öffnung für das Wirken des Heiligen Geistes, den Jesus Christus Seinen Jüngern verheißen hat. Europas Erneuerung, Europas Rettung hängt somit von der Erneuerung des Glaubens der Christen ab, von unserer Umkehr, meiner und deiner.

Zugegeben, das klingt furchtbar fromm und vage. Und dennoch entscheidet sich alles daran: an der Bereitschaft möglichst vieler, die Liebe Gottes in diese erkaltete Welt einfließen zu lassen, Tag für Tag, Stunde für Stunde, in möglichst viele Augenblicke, in möglichst viele Begegnungen, in möglichst viele persönliche Pläne, in möglichst viele Gesten, in möglichst viele Entscheidungen.

Gelten nicht Jesu Worte an die Gemeinde von Laodizäa besonders für heute? “Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend, und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, daß gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt. Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst; und kaufe von mir weiße Kleider, und zieh sie an, damit du nicht nackt dastehst und dich schämen mußt; und kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst. Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht. Mach also Ernst, und kehr um! Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir." (Offb 3,16-20)

Christof Gaspari

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