VISION 20005/2008
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Es lebe die Krise!

Artikel drucken Eine Chance, zu sich selbst zu finden

Zwischen 40 und 50 machen sehr viele Menschen das durch, was man “Midlife Crisis", Krise der Lebensmitte, nennt. Eine tiefe Verunsicherung kann auftreten. Fragen wie: War bisher alles falsch? treten auf. Wie soll man damit umgehen?

Welche sind denn die typischen Merkmale der Midlife-Krise?

P. André Daigneault: Da gibt es keine eindeutigen Kriterien, wenn man den Beginn dieser Periode des Übergangs im Leben festmachen will. Sie kann langsam oder schlagartig beginnen, etwa zwischen dem 35. und dem 50. Lebensjahr, bei Männern manchmal mit 55. Die Krise beginnt oft mit einem Gefühl der Unzufriedenheit. Wir hatten uns für so viele Projekte verausgabt - und plötzlich erleben wir eine Art innere Leere. Wir stellen dann fest, wie sehr sich die jugendlichen Wunschvorstellungen von unserem Leben von unserem Leben als Erwachsener unterscheiden. Manchmal begreifen wir, daß wir einem Traum gefolgt sind, der gar nicht der eigene war, und daß wir dabei einen Teil unserer Persönlichkeit unterdrückt hatten.

Diese Krise ist eine Zeit der Infragestellung. Nach Jahren des Aktivismus beginnen wir unser Innenleben zu erforschen: Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Habe ich die falsche Wahl getroffen? Wer bin ich eigentlich jenseits meiner Aufgaben, meines Berufes, meiner gesellschaftlichen Rolle? Wohin muß ich mein Leben jetzt ausrichten? Was seit der Kindheit verdrängt wurde, steigt jetzt an die Oberfläche. Auch was den Glauben anbelangt, entdeckt man sich, wie man ist: verletzlich, zerbrechlich, sündhaft.

Handelt es sich nicht einfach um eine Depression?

Daigneault: Nicht das, was man meist darunter versteht, oder was man “Burnout" nennt. Allerdings kann diese Krise bestimmte depressive Zustände hervorrufen, aber sie selbst betrifft eine andere Ebene. Denn dieses Gefühl der Leere stellt sich mitten in einer Lebenssituation ein, die der Betroffene für wohlgeordnet hielt. Man erlebt ohne erkennbare Ursache eine diffuse Verunsicherung, einen Zustand innerer Anspannung, die vieles infrage stellen. Der berühmte Psychotherapeut C.G. Jung stellte fest, daß viele seiner Patienten um die 40 keineswegs von einer klinisch definierten Neurose betroffen waren, sondern darunter litten, daß ihr Leben irgendwie sinnlos geworden war. Diese Midlife-Krise - wann immer sie auch eintritt - erscheint wie eine Einladung zur neuerlichen Selbstbestimmung, die ja ein wesentlicher Teil des Lebens als Erwachsener ist, um menschlich und spirituell zu reifen.

Kann man dem nicht entgehen, um sich diese schmerzliche Erfahrung zu ersparen?

Daigneault: Man muß da einfach durch, sonst steht einem ein trauriges Alter bevor! Nach dieser Krise, etwa mit 50, kann man dann selbst zum Ratgeber werden. Was mich betrifft, habe ich meinem Eindruck nach mit 50 bessere Ratschläge als mit 30 gegeben. Jeder Mensch - verheiratet oder unverheiratet, Priester oder im Ordensstand - muß durch diese mehr oder weniger bewegte Zeit. Sie kann in Beziehung zur Adoleszenz stehen. Denn all das, was damals unbewältigt blieb, steigt wieder an die Oberfläche. Jetzt aber kommt man nicht umhin, Antworten zu geben... Daher wird diese Zeit von manchen auch als zweite Adoleszenz bezeichnet.

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Handelt es sich auch um eine Krise des Glaubens?

Daigneault: Für Christen kann diese Krise auch die Gelegenheit zu dem bieten, was viele als “zweite Bekehrung" bezeichnen. Tatsächlich kann es nämlich auch eine Zeit sein, in der man “eine Nacht des Glaubens" durchlebt, die ihrerseits in eine Vertiefung des Gebetslebens und der Anbetung einmündet. Manche sagen, daß wir uns in diesem Lebensabschnitt wieder versöhnen mit dem Kinderglauben, häufig verfälscht durch eine falsche Vorstellung von Gott und vom erwachsenen Glauben. “Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, also über 35, gibt es keinen einzigen, dessen Grundproblem nicht die Frage der Religion ist", bestätigt C.G. Jung. “Letztlich leidet ja jeder darunter, das verloren zu haben, was lebendige Religionen zu allen Zeiten ihren Gläubigen vermittelt haben. Und keiner ist wirklich geheilt, solange er nicht zu einer religiösen Einstellung findet."

Als geistlicher Begleiter stehe ich in Verbindung mit praktizierenden Katholiken, die so eine Krise durchleben. Ich wiederhole dann immer das, was Henri Nouven über den wahren Weg, der zur Anbetung führt, gesagt hat: “Man muß lernen, sich lang mit Gott zu langweilen, indem man still vor Ihm verharrt." Mein Vorschlag: Das eigene Leiden nicht zu verdrängen, sondern es - so gut wie möglich - Christus in langen Zeiten stiller Anbetung zu Füßen zu legen. Massenaustritte aus manchen Ordensgemeinschaften - auch wenn diese noch so sehr geprägt sind von einer auf Verschmelzung und Entrückung ausgerichteten Spiritualität - könnte man vermeiden, würde man diese menschlichen Krisen nicht verleugnen.

Inwiefern kann man menschlich von dieser Krise profitieren?

Daigneault: Für C. G. Jung erreicht man seine menschliche Reife erst ab 40. Sehr oft ist diese Krise der Lebensmitte eine gute Gelegenheit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Es ist der Lebensabschnitt, wo man vom “Tun" zum “Sein" gelangen kann. Eine Periode, in der der Erwachsene es sich schuldig ist, sein Leben Revue passieren und seine innersten Sehnsüchte hochkommen zu lassen. Nach dieser Bewährungsprobe werden wir im allgemeinen anderen und uns gegenüber barmherziger. Es ist wie ein Neustart, eine Wiedergeburt - “Man kommt nicht nur einmal zur Welt", hat Jean Sullivan in Le Plus Petit Abîme (Der kleinste Abgrund) geschrieben. Dann kann man sein kindliches Herz wiederentdecken - und dabei reife Frauen und Männer werden.

Wer sich dem nicht entzieht, wer bereit war, sich seinen Verletzungen zu stellen, bei dem fällt nach der Krise die Maske und er wird er selbst. Ein Wandel tritt ein, meine Persönlichkeit verliert die Starrheit, die anderen können mich nicht mehr wie früher in Schubladen einordnen. Anscheinend werde ich ein anderer, und dabei finde ich nur zu mir selbst. Man könnte auch sagen: Jeder entdeckt sich als der Mensch, der er tatsächlich ist, und nicht als der, den er sich erträumt hatte.

P. André Daigneault ist Père des Foyer de Charité in Sutton (Kanada). Das Gespräch mit ihm - auszugsweise wiedergegeben aus “Famille Chrétienne" v. 7.-13.6.08 - führte Cyril Lepeigneux.

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