VISION 20001/2018
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Ist wirklich alles relativ?

Artikel drucken Anfrage an ein heute gängiges Dogma (Von Weihbischof Andreas Laun)

Wenn es um entscheidende Fragen der Lebensgestaltung geht, etwa Abtreibung, „Ehe für alle“ oder Euthanasie, hört man oft: „Du siehst das so – ich anders. Niemand hat die Wahrheit gepachtet.“ Wie unsinnig diese Argumentation ist, beleuchtet der folgende Beitrag.

Es ist zunächst einmal gut, sich in aller Ruhe zu vergegenwärtigen, wie sehr wir im Alltag die Wahrheit wollen und von ihrer Bedeutung überzeugt sind: bei der Diagnose wegen bestimmter Schmerzen, von denen wir befreit sein wollen; bei der Erklärung, wie das neue Telefon oder irgendein anderes technisches Gerät funktioniert. Und Kinder, denen der Vater eine Geschichte aus seinem Leben erzählt, fragen gerne nach: Ist das wahr?
Zur Frage nach der Wahrheit kann man sich hinführen lassen durch das Augustinus-Wort: „Was ersehnt die Seele mehr als die Wahrheit?“ und den Dialog zwischen Pilatus und Jesus dazuhalten. Jesus sagt: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“ Darauf der Satz des Pilatus, den heute gerade Prominente, meist eitle Menschen, die auf ihren Verstand stolz sind, auch sagen: „Was ist Wahrheit?“
Nachdem er dies gesagt hatte, ging Pilatus wieder zum Volk hinaus und versuchte, sich noch aus der Schlinge einer – wie ihm bewusst war – ungerechten Verurteilung Jesu zu ziehen. Aber auf ein Gespräch über das Wort Jesu und dessen Antwort ließ er sich nicht ein. Ahnte er wohl, dass er sich blamieren würde? Auf jeden Fall fühlte er sich in der, im ganzen Reich, bei jedem „small talk“ als politisch korrekt geltende Antwort sozusagen geborgen: Man könnte seine Frage auch als gebildet werten, wie das heute viele Menschen auch tun.
Ein kritischer Geist von heute steht über allen Wahrheitsansprüchen und hat damit den Freiraum für seine eigenen Meinungen, die er, ein doch gebildeter Mensch, auch wenn seine „eigenen“ Meinungen aus der U-Bahn-Gratiszeitung stammen, als interessant, spannend, originell darstellen und verkaufen kann. Sein Gewinn: Er hat sich unangreifbar gemacht. Zumal der Großteil seiner Zuhörer vermutlich dieselben Zeitungen liest. Und, was noch wichtiger ist: Diese behaupteten Wahrheiten stellen keine Ansprüche an ihn, wirklich keine, sein eigenes Verhalten war immer richtig und bleibt es auch aus dem einfachen Grund, weil man ja nicht weiß, was Wahrheit wirklich ist, und es auf jeden Fall arrogant und abzulehnen wäre, wenn jemand behauptete, er hätte die Wahrheit „gepachtet“.
Schon diese Ausdrucksweise von der „Wahrheitspacht“ reicht, um die Idee wirklicher Wahrheit lächerlich zu machen. Mit dem Vorbehalt, dass technische, wissenschaftliche Wahrheiten natürlich gültig sind, ebenso wie die allgemein anerkannten Mythen, wie der von der Evolution: ein Mythos, der wie ein Dogma hochgehalten wird und der den Vorteil bietet, nicht an Gott glauben zu müssen!
An dieser Stelle sollte man ein Beispiel aus der Apostelgeschichte ins Auge fassen: Der römische Statthalter Felix, der Paulus verhaften hatte lassen, wollte, neugierig, hören, was Paulus über den Glauben an Jesus Christus sagen könnte. Und Paulus redete, aber dann heißt es in dem Text: „Als aber die Rede auf Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und das bevorstehende Gericht kam, erschrak Felix und unterbrach ihn. Für jetzt kannst du gehen; wenn ich Zeit finde, werde ich dich wieder rufen.“ Man sieht: In dem Augenblick, in dem die Botschaft dieses Jesus unangenehme Folgen für das eigene Leben hätte, bricht Felix ab und vertagt auf ein „später“, das sicher nicht gekommen ist.
Es ist immer dasselbe: Nur ja keinen Anstoß in der Gesellschaft erregen (Pilatus) und alles Unerfreuliche auf später verlegen (Felix): Wahrheit ja, wenn sie praktisch ist und hilft, sich vor Gottes-Ansprüchen zu schützen, Hauptsache sie stört nicht!
In unserer Zeit hat dieses sich Schützen vor der Wahrheit auch die Form einer „Dogmenphobie“ angenommen. Dogma? Pfui, dogmatisch? Ein schlechter Charakter, extrem rechts und fundamentalistisch, wohl ein Neonazi. Warum diese reflexhafte Ablehnung, wenn Dogma nur heißt: Diese „Meinung“, die dir die Kirche vorlegt, ist 100% sicher. Und wenn dieses Dogma eine wichtige, vielleicht lebensrettende Frage beantwortet, kann sich ein vernünftiger Mensch doch nur Sicherheit wünschen, größtmögliche Sicherheit: Im Gebirge auf der Suche nach dem richtigen, gefahrenfreien Weg, im Geschäftsleben angesichts einer Investition, von der die Existenz abhängt, in der Ordination eines Arztes, von dessen richtiger Diagnose Leben oder Tod abhängt. Genügt das alles nicht, um zu verstehen, wie unvernünftig Pilatus und Felix reagierten und auch unzählbar viele Menschen von heute?
Dagegen steht ein Satz von Kardinal J.H. Newman, funkelnd wie ein großer Bergkristall in der Landschaft, in der wir Menschen suchen oder herum­irren. In seiner Autobiographie heißt es nämlich: „Von meinem fünfzehnten Lebensjahr an war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion; eine andere Religion kenne ich nicht; den Begriff einer anderen Religion kann ich mir nicht denken; Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk.“ Fundamentalprinzip seiner Religion, sagt Newman. Und ohne Fundament, ohne festen Boden unter den Füßen, geht es auch sonst im Leben nicht.
Ich höre den spöttischen Einwand: Ja natürlich, es gibt viel Wahrheit in unserem Leben, sehr nützliche, wir finden sie in Hülle und Fülle im Google und es gibt unendlich viele Wahrheiten, die uns für das Leben unentbehrlich oder wenigstens sehr nützlich sind. Aber die Wahrheiten des Herrn Newman sind entbehrlich, Pilatus hatte recht, wozu sollte er sich quälen mit der Wahrheit, die Jesus zu meinen schien? Noch dazu klingt es ziemlich unverständlich und arrogant, wenn sich jemand selbst als Wahrheit bezeichnet!  
Eine erste Antwort lautet: Zu den alltäglichen Wahrheiten, die die Menschen dankbar annehmen, kommen noch jene Wahrheiten, die eigentlich nutzlos sind, aber eine gewisse Neugierde abdecken und oft mit unglaublichem Aufwand erforscht werden: Da findet man in einer Höhle einen alten Knochen, mit raffinierten Methoden bestimmt man sein Alter und spekuliert, wie alt er sein, von wem er stammen könnte, von einem Menschen oder einem Tier. Solche Wahrheiten stehen dann in wissenschaftlichen Büchern. Ihre Entdecker erhalten Nobel- oder andere Preise. Nur, den Menschen nützen sie eigentlich nichts, schon gar nicht jenen in Not, und auch nicht denen, die sich mit der Frage nach dem Sinn ihres Lebens abquälen.
Jenseits der Frage, ob es Wahrheit, die wir erkennen können und deren wir sicher sein dürfen, gibt, bleibt die große Anfrage des Glaubensbekenntnisses, das uns nicht gleichgültig lassen kann: Woher kommen wir? Als Zufall der Evolution oder geschaffen von Gott? Leben wir für unsere Urlaubsprogramme, viel Spaß und eine gute Rente, oder leben wir für mehr, viel, viel mehr? Zählt im Leben mein Erfolg am Laufsteg oder in der Steilheit der Karriere oder zählt nur die Liebe, wie manche behaupten?
Und überhaupt, gibt es jemanden, der mein Leben bewerten wird? Wenn ja, wer soll das sein? Man kann das Credo vom ersten bis zum letzten Satz durchgehen und sich immer fragen: Kann mir das „wurscht“ sein, ob das wahr ist oder nicht? Probieren Sie doch zu denken, es ist Ihnen „wurscht“, ob der Befund der Krebsuntersuchung positiv oder negativ war? Oder ob eine Anzeige vom Gericht an Ihre Adresse Sie wirklich gleichgültig lässt oder Sie nicht doch in Unruhe versetzt? Und wie geht es Ihnen beim Gedanken an die Frau, die Sie verlassen oder gar zur Abtreibung Ihres gemeinsamen Kindes gedrängt hatten? Alles wurscht?
Newman mit seiner Überzeugung ein pubertierender Träumer? Oder ist es nicht doch so, dass uns ohne das Fundament des Credos der Boden unter den Füßen abhanden kommt. Jesus ist für diese Wahrheit in die Welt gekommen, sagt Er, wie wäre es, wenn wir Ihm zu glauben versuchten und anfingen zu leben, als ob Er wirklich die Wahrheit wäre?

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