VISION 20005/2022
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Der Nachmittag des Christentums

Artikel drucken Über den Glauben in unserer Zeit (Helmut Hubeny)

Tomáš Halík, Professor für Soziologie und Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag, 1978 heimlich zum Priester geweiht, war engster Mitarbeiter von Kardinal Tomášek  und Václav Havel. Er beginnt seinen Überblick im antiken Rom: „Religion“ (religio) habe damals ein System von Ritualen und Symbolen als politischer Ausdruck gesellschaftlicher Identität bedeutet. Das junge Christentum habe sich erst im vierten Jahrhundert in diese Rolle gefunden.
Seit der Aufklärung verstünden wir „Religion“ als eine „Weltanschauung“ neben anderen. Aber religio  sei im Säkularismus nicht verschwunden: „Als ‚Religion’ von heute können wir die kapitalistische Ökonomie bezeichnen, den alles verbindenden Markt mit Ersetzung des Monotheismus durch ‚Money-theismus’, den kapitalistischen Kult des Geldes.“ Das Christentum als religio, das die kulturell-politische Gestalt der christianitas (der „christlichen Zivilisation“) angenommen hatte, gehöre definitiv der Vergangenheit an. Es erleide nun die „Müdigkeit des Mittags“, die acedia ...
Das Reformkonzil habe den Weg angedeutet, die konfessionelle Gestalt  der Kirche in einer dreifachen Ökumene zu öffnen: Einheit zwischen den Christen, Dialog mit anderen Religionen und Annäherung an den säkularen Humanismus. (Mittlerweile gehört auch der innerkonfessionelle Ausgleich zwischen Progressiven und Konservativen dazu).
In der Fortsetzung dieses We­ges sieht der Autor die Aufgabe für den „Nachmittag des Christentums“: Statt Gott als apathischen allmächtigen Direktor der Natur und der Geschichte ihn als einen Gott zu entdecken, der seine pathische Liebe (eine leidenschaftliche und leidende Liebe) durch die Selbsthingabe Jesu am Kreuz zeigt. „Der Nachmittag des Christentums kommt wahrscheinlich so, wie Jesus nach dem Ostermorgen kam: wir erkennen Ihn an den Wundmalen an Seinen Händen, in Seiner Seite und an Seinen Füßen. Es werden jedoch verwandelte Wunden sein.“
Halík fragt: Woran glauben wir, welchen Glauben bekennen wir, wenn wir sagen, dass wir an Christus glauben? Glauben wir an die Gottheit Christi und Seine Auferstehung von den Toten? Oder glauben wir mit dem jesuanischen Glauben, mit dem Jesus glaubte („Glaubensakt“, fides qua, faith) und an das, woran Jesus glaubte („Glaubensüberzeugung“, fides quae, belief). Halík antwortet: Jesus glaubte nicht an den Gott der Philosophen, sondern an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; an den Gott, der aus der Feuerflamme zu Moses gesprochen hat.
Wir sehnen uns danach, in die Beziehung Jesu zum Vater einzutreten. Unser Glaube beruht nicht auf Meinung der Metaphysiker über Gott. Der Kern des Christentums ist die Beziehung Jesu zum Vater. In der Geschichte Jesu werden unser Glaube, das Vertrauen und die Liebe Gottes uns Menschen gegenüber durch uns Menschen gekreuzigt, getötet, begraben.
Sie bleiben jedoch nicht im Grab liegen. Die Ostergeschichte überlässt der Hölle und dem Tod nicht das letzte Wort. Sie endet mit der Botschaft, dass die Liebe stärker ist als der Tod.
Diese Botschaft wird dadurch glaubwürdig, dass man sie im Lebenszeugnis der Christen erkennen kann, dass Christus in ihnen lebt, in ihrem Glauben, in ihrer Hoffnung und vor allem in der  Kraft und Authentizität ihrer solidarischen Liebe.
Die wichtigste Herausforderung für das heutige kirchliche Christentum sei die Wende von der Religion zur Spiritualität. „Wenn die Evangelisierung auf dem Einsäen des Samens der Botschaft des Evangeliums in einen guten Boden beruht, dann muss dieser Boden jener innerste Bereich sein, den Augustinus memoria nannte, Pascal Herz und Jung das Selbst.“ Der israelische Forscher Boaz Huss stelle „Spiritualität“ als eigenes Phänomen dar, das sich für die Charakterisierung der heutigen geistig-geistlichen Situation eignet.
Spiritualität, die Lebenskraft und die Leidenschaft des Glaubens gehen sowohl der intellektuellen als auch der institutionellen Formierung des Glaubens voraus (was ich aus eigener lebenslanger Erfahrung begeistert bestätige). Tomáš Halík warnt ausführlich vor den Gefahren der Kommerzialisierung und Banalisierung von Spiritualität, vor der Trödelware von Esoterik, Okkultismus, Magie, Pseudobuddhismus, Populismus ... „Damit die neu erwachte Kraft der Spiritualität zum Frieden und zur Weisheit führen kann, darf man sie weder von der Rationalität noch von der moralischen Verantwortung abtrennen, und auch nicht von der heiligen Ordnung, welche der Liturgie Leben einhaucht.“
Halík sieht in der Enzykla unseres Papstes Fratelli tutti  das wichtigste Dokument unserer Zeit! Niemand steht außerhalb der Liebe Christi! „Eine tatsächlich neue Evangelisierung hat heute eine anspruchsvolle Aufgabe: den universalen Christus zu suchen, dessen Größe oft durch die Begrenztheit unserer Sicht, durch unsere allzu engen Perspektiven und Gedankenkategorien verborgen gehalten wird.“ Wie ermutigend!

Der Nachmittag des Christentums, Eine Zeitansage. Von Tomáš Halík, Herder 2022, 320 Seiten, 20,70€ .


 

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