VISION 20005/2022
« zum Inhalt Glaube und Leben

Erst im Ruhen blüht Leben auf

Artikel drucken Ohne Ruhe kein Innenleben

Für die meisten Menschen unserer Tage ist das Leben hektisch geworden. Abzuschalten fällt uns schwer. Die Gedanken kreisen um Verpflichtungen, Sorgen und Wünsche. Da ist es schwer zu einer echten, wahren Ruhe zu finden. Und dabei ist sie der Ort, an dem uns Gott begegnen kann…

Warum treten Sie für eine Wiederaufwertung des Ruhens ein?
P. Maximilien Le Fébure du Bus: Unsere Zeit erfordert das geradezu! Wir leben ganz offensichtlich in einer Gesellschaft, in der sich der Rhythmus beschleunigt, in der die Vervielfältigung der Aktivitäten und die Überinformation das Menschsein ruinieren. Meiner Ansicht nach kann nur die Ruhe die Einheit der Person wiederherstellen, die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und mit sich selbst.

Was kennzeichnet denn diesen Verlust der Einheit der Person?
P. Le Fébure: Der moderne Mensch wird immer oberflächlicher und verzettelt sich mehr und mehr. Er lebt quasi an seiner Oberfläche, „in den Randbezirken seiner Seele“, wie Père Caffarel gesagt hat. Es bereitet ihm große Schwierigkeiten, sein Innenleben zu entfalten, zu staunen, anderen zuzuhören. Ungeduldig, will er fortwährend Zeit gewinnen, sein Tagespensum maximal ausfüllen. Er zieht der Qualität die Quantität vor und meint, er verwirkliche sich selbst durch Effizienz und Rendite.
Das äußert sich auf vielfältige Weise: „Zeit ist Geld“; Was zählt ist das Echo, die „likes“, usw. Kurzum, das Entscheidende geht verloren. Saint-Exupéry legt es uns ans Herz: Kehren wir zum Staunen und zur Einfachheit der Kindheit zurück. Kinder haben einen Sinn für das, was wichtig ist, und sie vermögen, Zeit mit einem Kieselstein oder einem Stück Farbe zu verschwenden. Man lese den Kleinen Prinz nach!

Verwirklicht sich der Mensch denn nicht gerade in der Arbeit?
P. Le Fébure: Natürlich hat die Arbeit ihre Würde. Sie vermenschlicht den Menschen. Wir stellen heute aber eine Art Umkehrung  der Werte fest: Viele vergötzen die Arbeit und meinen, die Ruhe diene nur dazu, diese wirksamer zu machen. Ihre Tage sind randvoll. Keine Frage, Gott wirkte sechs Tage, ruhte am siebenten. Der heilige Augustinus erklärt jedoch, dass der Höhepunkt der Schöpfung der Tag der Ruhe sei. Dieser ist nicht eine Zeit der Untätigkeit, wohl aber eine der herausragenden Aktivität. Sechs Tage lang wirkte Gott in „Seinem Umfeld“. Am siebenten Tag ruhte Er in sich selbst. Gerade das ist Seine Glückseligkeit: „Gott erfreut sich an sich selbst, bevor er an Seinen Werken Gefallen findet,“ stellt der heilige Augustinus fest. Das ist eine Einladung uns in Gott auszuruhen. Somit ist diese Ruhe unser eigentliches Ziel. Über die legitime körperliche Ruhe hinaus, peilen wir das Ausruhen in Gott an. Das ist wahrhaft ein Aufstieg.

Aber haben wir nicht eine ganze Ewigkeit, um uns auszuruhen?
P. Le Fébure: Das schon… Aber wir müssen hier unten damit beginnen! „Eine Ewigkeit zum Ausruhen zu haben“ ist die Lebensweisheit der christlichen Arbeitsfanatiker. Haben Sie vom Amerikanismus gehört? Eine Denkweise, die von jenseits des Atlantik ausgeht und das kontemplative Leben, Werte wie Demut oder Gehorsam geringschätzte und einzig aktive Werte wie Wagemut und Ausdauer betonte. Von Leo XIII. verurteilt, ist der Amerikanismus immer noch weit verbreitet… Ja, ohne Ausruhen, gibt es kein Innenleben. Um die Kirche aufzubauen, brauchen wir Hirten, karitatives Engagement und Großzügigkeit, vor allem aber ein Übermaß an kontemplativem Innenleben. Die Kirche wird durch ihre Verbundenheit mit Gott augerbaut, durch die Einheit mit Christus in der Eucharistie, durch Gebet und Anbetung.

Bleibt überhaupt Zeit für das Ausruhen, wenn man sich um die Familie, die Arbeit und das Engagement in der Kirche zu kümmern hat?
P. Le Fébure: Im Grunde genommen geht es da um eine Unterscheidung. Jeder muss sein Gewissen erforschen und seinen „christlichen Identitätsausweis“ überprüfen. Da lese ich zunächst den Vornamen, den ich bei der Taufe erhielt: Ich bin Kind Got­tes. Ob Laie, Priester oder Ordensmitglied, Vorrang hat mein Innenleben. Dieses erst macht mein Handeln fruchtbar, für mich und für die anderen. Bin ich verheiratet, so folgt mein Familienname; ich bin Ehemann oder -frau, dann Vater oder Mutter und dann folgt meine berufliche Tätigkeit. Ein erneuter Blick auf meinen Ausweis ermöglicht es mir, meine Aufgaben nach ihrer Bedeutung einzuordnen: zuerst als Ehepartner, als Elternteil dann als Berufstätiger. Es ist die Tugend der Klugheit, erleuchtet durch die Gabe des Rates, die mir sagen wird, ob ich mich überhaupt dem Katechumenat, dem Katechismus oder der Evangelisierung widmen soll… (…)

Worin besteht das rechte, das wahre Ausruhen?
P. Le Fébure: Das selbst gewählte, wahre Ausruhen ist die Frucht einer freien Entscheidung. Ich beschließe zu ruhen, nicht weil ich müde bin oder weil ich mich auf eine herausfordernde Tätigkeit vorbereite, sondern einfach so, ohne Hintergedanken. Genau das tut Gott. Er tut das nicht, weil er der Ruhe bedarf, sondern weil sie der Ort Seiner Glückseligkeit ist. Wenn ich mich ausruhe, höre ich damit auf, die Welt zu verändern. Ich bemühe mich, ich selbst zu sein, nach Gottes Vorbild. Auszuruhen bedeutet auch, die Freundschaft mit dem Herrn wiederzuentdecken. In seinen Konfessionen erklärt der heilige Augustinus das sehr gut: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“ Das kann man auch so ausdrücken: „Mein Herz ist unbefriedigt, solange es nicht in Dir ruht.“ Noch einmal: Im Himmel werden wir ausruhen! Und das wird nicht langweilig sein. Wir werden in einer dynamischen Ruhe leben, voll des Staunens und des Lobens. Wir sollten uns auf dieses ewige Ruhen vorbereiten – durch selbst gewählte Pausen mitten in unserem hektischen Leben.

Lässt sich ein solches Ausruhen erlernen?
P. Le Fébure: Na klar! Das Erlernen dieses Ruhens ist ein Vorgang, der unserer Natur Rechnung trägt. Wer auf seine Gesundheit, seinen Leib, seinen Schlaf nicht achtet, wird Schwierigkeiten haben, sich dem Herrn auszuliefern und zur Anbetung zu finden. Denn, um zu dieser kontemplativen Ruhe, dem authentischen christlichen Ruhen, zu gelangen, muss jeder lernen, freiwillig seine Aktivitäten loszulassen. Zum Beispiel um 23 Uhr schlafen zu gehen und so zu ausreichendem Schlaf zu kommen. Péguy bringt das gut zum Ausdruck: „Der Schlaf ist der Freund des Menschen. Der Schlaf ist der Freund Gottes. Man sagt mir, es gebe Menschen, die gut arbeiten und schlecht schlafen. Sie haben zwar den Mut zu arbeiten. Ihnen fehlt der Mut, nichts zu tun. Sich zu entspannen. Sich auszuruhen. Zu schlafen. Die Unglücklichen, sie wissen nicht, was gut ist. Sie verrichten zwar tags­über ihre Aufgaben gut, wollen aber nachts nicht das Regiment aus der Hand geben.“ Schlafen, das bedeutet letztendlich, dem Herrn zu sagen: „Ich liefere mich Dir aus, ich bin nicht mehr Herr über mich.“

P. Maximilien Le Fébure du Bus ist Stiftsherr der Abtei Notre-Dame de Lagrasse und Autor von Éloge spirituel du repos (Artège 2022, 120 Seiten, 9,40€). Mit ihm sprach Élisabeth Caillemer für Famille Chrétienne v. 9.-15.7.22.

© 1999-2024 Vision2000 | Sitz: Hohe Wand-Straße 28/6, 2344 Maria Enzersdorf, Österreich | Mail: vision2000@aon.at | Tel: +43 (0) 1 586 94 11