VISION 20001/2012
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Die eucharistische Anbetung: wunderbar

Artikel drucken „In Betanien sitze ich neben Jesus“ (P. Leo Kuchar)

Wer in inniger Beziehung zu Jesus steht und vertrauten Umgang mit Ihm pflegt, wird wohl dann und wann die Zeitgenossen Christi beneiden. Sie konnten Ihn in Seiner menschlichen Gestalt sehen…
Sie konnten auch Sein Antlitz betrachten, Seine Gesichtszüge und Seine Augen, die Faszination genießen, die von Seiner Person ausging. Sie hörten Seine Stimme, waren unmittelbare Empfänger Seiner Botschaft und Zeugen Seiner gewaltigen Wunder.
Wir heutigen Christen, die im eucharistischen Zeitalter leben, können auch gewichtige Nachteile aufzählen. Wer waren die Scharen, die Jesus ständig umringten? Es waren Bewohner der Städte und Ortschaften, die Jesus durchwanderte. Wenn Er irgendwo auftauchte, verbreitete sich die Nachricht in der ganzen Umgebung wie ein Lauffeuer. Besonders die Kranken eilten zu Ihm oder wurden zu Ihm getragen. Wer aber 100 Kilometer weiter wohnte, konnte Ihn nicht erreichen. Man konnte Seine Reisepläne nicht im Internet abfragen, das Auto starten und mit Tempoüberschreitung auf der Autobahn in Rekordzeit zu Ihm gelangen. Der blinde Bettler Bartimäus in Jericho musste warten, bis Jesus dessen Wohnort aufsuchte und bei Ihm vorbeiging. Am Ufer des Sees Genesareth wurde Jesus von der Menschen­menge so bedrängt, dass Er in ein Boot flüchten musste, um nicht er­drückt zu werden. Dann hielt Er Seine berühmte „Seepredigt“. Wäre es denkbar, dass sich ein Zuhörer der Bergpredigt zu Jesus durchboxt und Ihn ersucht: „Rabbi, hast Du jetzt eine Stunde für mich Zeit? Ich will mit Dir unter vier Augen reden.“ Unmöglich!
Das sind Gedanken, die mir einfallen, wenn ich in der leeren Kirche vor der ausgesetzten Monstranz Anbetung halte. Fast höre ich Jesus flüstern: „Du kannst Tag und Nacht mit mir unter vier Augen reden, falls du die Zeit findest!“ Das ist jetzt, im eucharistischen Zeitalter, nicht nur möglich, sondern es wäre sogar ein Herzenswunsch des Herrn!
Ich benötige für direkte Kontakte mit Jesus kein Internet, um zu erfahren, wo Er sich gerade aufhält. Ich muss mich auch nicht ins Auto setzen und hunderte Kilometer zurücklegen, um Ihm zu begegnen. Ein Stadtplan reicht. In ihm sind Kirchen eingezeichnet, wo Er sich aufhält und auf mich und dich wartet.  Im Zentrum unserer Großstädte finden wir vielleicht hinter jeder fünften Ecke eine Kirche mit Tabernakel und Ewig-Licht-Kerze. Ich muss also Jesus nicht lange suchen, wie dazumal die Bewohner von Judäa und Galiläa. Eher sucht Er mich. Mein Leben verläuft im Umkreis mehrerer Tabernakel. Die Eucharistie ist selber das „Internet“, ein Netz von Tabernakeln, mit dem Jesus die ganze Welt umspannt.
Freilich sehe ich ihn nur in der Gestalt des Brotes, aber sind die Vorteile des eucharistischen Zeitalters nicht unvergleichlich größer als die Möglichkeiten der Jünger Jesu zur Zeit Seines irdischen Lebens?
Ich kann bei der Anbetung die Evangelien zur Hand nehmen oder ein anderes Buch, beispielsweise das Buch Jesus von Nazareth von Papst Benedikt XVI. Jedesmal, wenn ich auf den Namen Jesus stoße, durchzuckt mich wie ein Stromschlag der Gedanke: Und dieser Jesus ist jetzt vor mir!
Das ganze öffentliche, aber auch das verborgene Leben Jesu, wie es die Evangelien beschreiben, kann ich vor mir abrollen lassen und es mit der unfassbaren Vorstellung verknüpfen, ich sei eigentlich ein ständiger Begleiter Jesu. Ich bin auch dort „dabei“, wo die Apostel abwesend waren.
Ich bin bei Jesus im Stall von Betlehem, in der Wüste der Versuchung, bei der Taufe im Jordan, auf dem Berg der Verklärung, auf den Bergeshöhen, wo Er allein war und betete; im Haus des Nikodemus; am Jakobsbrunnen bei Sychar. Ich bin im Boot, Jesus schläft und der Sturm peitscht die Wellen. Ich beobachte, wie über mir das Dach abgedeckt und ein Gelähmter abgeseilt wird.
Im Tempel zu Jerusalem halte ich vorsichtig einen Sicherheitsabstand ein. Jesus schlägt mit einem Strick auf die Händler ein und jagt sie davon. In Betanien sitze ich neben Jesus, Maria lauscht Seinen Worten, Martha bewirtet Ihn. Im Haus des späteren Evangelisten Markus erlebe ich das Letzte Abendmahl und sehe erstmals die eucharistischen Gestalten, Brot und Wein. Im Garten Getsemani schlafen drei Apostel, aber ich bin bei Jesus. Er zittert vor Angst und schwitzt Blut.
Ich stehe unter dem Kreuz mit Johannes, Maria und den Frauen. Die übrigen Apostel sind davongelaufen. Ich bin der einzige beim Grab, der nicht schläft. Die römischen Bewacher schnarchen, Der Stein wird weggewälzt, eine Lichtgestalt verlässt die Grabkammer. Ich begleite Jesus, Kleopas, alias Alphäus, und dessen Sohn Simon nach Emmaus. Ich stehe an einem Ort zwischen Ölberg und Betanien und schaue zu, wie Jesus zum Himmel emporgehoben wird.
Das war nur eine flüchtige Auslese der biblischen Ereignisse. Ich reproduziere sie durch meine Vorstellungskraft. Das nennt man Betrachtung. Was aber keine Einbildung ist: Die Hauptperson aller Geschehnisse ist vor mir, Jesus Christus, unser Herr und Gott! Er, der alles erlebt, gesagt, getan und erduldet hat, worüber ich nachgedacht und was ich betrachtet habe, lebt und ist mein aktueller Ge­sprächs­partner. Mir scheint, Er habe im Augenblick niemand anderen als mich, der mit Ihm spricht und Ihm zuhört. Anbetung ist kein Monolog, sondern Dialog. Auch Jesus spricht, aber man muss Seine Sprache verstehen. Er spricht nicht von Mund zu Ohr, sondern von Herz zu Herz.
Wenn alle Katholiken das Geheimnis Eucharistie von dieser Warte aus bedenken würden, wären unsere Gotteshäuser nicht menschenleer. Anbeter würden sich um den Herrn im Altarsakrament scharen und es würde sogar ein Gedränge herrschen wie damals in Ka­farnaum, als die Apostel ihren Meister aufmerksam machten: „Alle suchen Dich!" (Mk 1,37).
P. Leo Kuchar

Der Autor ist Mitglied des Eucharistiner-Konvents in Wien.

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