VISION 20001/2012
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Jenseits unserer Ängste

Artikel drucken Über den Umgang mit berechtigten Sorgen (P. Alain Quilici OP )

Darf man sich wundern, dass die Angst um sich greift? Man braucht ja nur einen Blick in die Tageszeitungen zu werfen: Kri­sen, Attentate, Katastrophen fül­len in Wort und Bild die Seiten. Wie soll man mit all dem umge­hen? Was gibt Halt? Fragen, die das folgende Gespräch zu beantworten versucht.

Heute leidet jeder Zweite unter übertriebenen Ängsten. Redet uns unsere Gesellschaft Angstzustände ein?
P. Alain Quilici OP: Ja. Unsere Gesellschaft und die Medien schüren ungute Ängste: die Angst des Mangels, der uns antreibt zu konsumieren, die Angst zu Gunsten des Nachbarn erworbene Vorteile zu verlieren, die Angst vor der Meinung der anderen, die Angst, nicht im Trend zu liegen, die unsere geistige Freiheit beschränkt, die Angst, die von all den Infos über Katastrophen geschürt wird. Mich berühren diese vielen schlimmen Prognosen, mit denen man uns traktiert, etwa die Klimaerwärmung und die im Gefolge eintretenden Katastrophen, denen gegenüber wir machtlos sind. Wir leben keineswegs in einer Sicherheit vermittelnden Gesellschaft, obwohl wir super versichert sind. Ich erinnere mich an eine Gruppe behinderter Menschen, die in einem Fluss gebadet hatten. Weil das angeblich mit einer Katastrophe hätte enden können, wurde daraus eine Skandalgeschichte. Welche Riesenfreude die Betroffenen dabei hatten, wurde ausgeblendet. Heute muss alles gefahrlos über die Bühne gehen. Wie soll man je Ängste besiegen, wenn man nie etwas riskiert?

Und die Angst vor sich selbst – ist die berechtigt?
P. Quilici: Man kann durchaus Angst vor der eigenen Begrenztheit, den eigenen Schwächen und Reaktionen beim Auftreten von Schwierigkeiten haben: Feigheit, Flucht vor Ereignissen oder Personen. Und dann kann man auch Angst davor haben, was so alles in uns schlummert: „Wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon.“ (Gen 4,7) In mir schlummert ein Potenzial von Hass und Gewalt, das übrigens heute von allen Seiten genährt wird, indem man den Wunsch schürt, sich zu rächen. Die Erziehung, die Kultur helfen mir, all das zu beherrschen. Aber diese Gefühle können hochkommen, wenn ich nicht wachsam bin. Alle diese Ängste müssen wir beherrschen, wir müssen sie Gott übergeben, wenn wir handlungsfähig bleiben wollen. Der Stuntman hat sicher Angst, aber er beherrscht sich. Der Märtyrer hat ebenfalls nicht den Wunsch zu leiden, aber es gelingt ihm mit Gottes Hilfe, seinen Überlebenstrieb zu beherrschen. Will man einem Kind Selbstbeherrschung beibringen, muss man es mit Risken konfrontieren: Der Pfadfinder, der allein losgeschickt wird, übt, seine Angst zu überwinden. Lehren wir die Jungen, das Leben in Bezug zu Gott zu sehen: Er stärkt jene, die Ihn darum bitten. Selbstbeherrschung fällt einem nicht spontan zu.

Wie kann man die Angst vor der Zukunft bekämpfen?
P. Quilici: Das Unbekannte und daher die Zukunft ängstigen uns. Die Ablehnung von Krankheit und Tod, die uns instinktiv leitet, macht uns am meisten Angst. So kann die Angst, ein behindertes Kind zu bekommen, Eltern davon abhalten, überhaupt Kinder zu wollen. Andere wiederum bleiben wegen unserer gewalttätigen Welt ohne Zukunft kinderlos. In unserer individualistischen Gesellschaft können wir immer weniger mit den Mitmenschen rechnen und wir hoffen auch nicht auf Gott. So müssen wir also unsere Ängste mit Versicherungen (Pensions-, Brandschaden-, Einbruchs-, Krankenversicherung) beschwichtigen. Unter dem Vorwand, Realisten zu sein, vervielfältigen wir die Absicherung gegen unsere vielen Ängste. Und dennoch bleibt das Gefühl der Unsicherheit: All diese Vorsichtsmaßnahmen können uns nie zu 100% vor Bedrohung bewahren. Das einzige Gegenmittel: In der Gegenwart zu leben, auf das konzentriert, was heute zu tun ist. Der heilige Ludwig von Gonzaga sagte einmal: „Würde man mir meinen bevorstehenden Tod ankündigen, ich würde weiter spielen, wenn gerade eben die Zeit zum Spielen ist.“ Dazu lädt uns auch Christus im Evangelium ein: „Sorgt euch nicht um euer Leben… Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie.“ (Mt 6, 25f)

Wenn Christus uns sagt: „Fürchtet euch nicht!“, wovon will Er uns da befreien?
P. Quilici: Von all unseren menschlichen Ängsten, den verständlichsten. Christus kennt unser Innerstes. Daher finden wir so viele Aufrufe zum inneren Frieden im Evangelium. Im Boot während des Sturmes hatten die Apostel sehr wohl Grund zu zittern. Alle diese Ängste sind berechtigt. Jesus macht uns diesbezüglich auch keine Vorwürfe. Im Gegenteil: Er will uns beruhigen. Wie eine Mama, die ihrem Kleinen sagt: „Fürchte dich nicht, ich bin ja da.“ Gottes Wirken, so wie Christus es uns offenbart, ist ein beruhigendes Wirken. Wenn Gott uns dazu animiert, uns nicht zu fürchten, so offenbart Er sich als Herr über die Ereignisse, die uns bedrohen. Er ist mächtiger als sie. Er wacht. Hier handelt es sich nicht um die menschliche Aufforderung, sich durch Willensanstrengung selbst zu beherrschen, sondern um den Ansporn, Ihm Vertrauen zu schenken. Vor dieser Herausforderung steht der Gläubige. Ermutigen wir daher unsere Kinder, konkret auf Gott zu vertrauen. „Hab also keine Angst, mein Sohn, weil wir verarmt sind,“ sagt der alte Tobit zu seinem Sohn, „Du hast ein großes Vermögen, wenn du nur Gott fürchtest, alle Sünde meidest…“ (Tob 4,21)
Das Gegenmittel gegen Angst ist, sich Gott anzuvertrauen. Johannes Paul II. hat dies in einem anderen Zusammenhang aufgegriffen, dem der Ängste unserer Gesellschaft: „Habt keine Angst vor den anderen, keine vor euch selbst. Seid freie Menschen!“

Ist diese Aufforderung Christi denn realistisch? Kann man jemals wirklich beruhigt sein?
P. Quilici: Christus beseitigt nicht die tief sitzende Angst, auch den Tod nicht, aber er verwandelt beides. Er hat den Tod besiegt, Er wurde zum Eingangstor ins ewige Leben. Keine Frage: Der Märtyrer empfindet Furcht, aber er vertraut auf Gott. Thomas Morus spricht viel in einem seiner Briefe aus dem Gefängnis an seine Tochter von seiner Angst im Angesicht des Todes. Aber als er zur Hinrichtung geführt wird, findet er die Kraft, dem Henker humorvoll zu sagen: „Ich danke Ihnen jetzt dafür, dass Sie Ihre Aufgabe erfüllen, denn nachher wird es schwierig sein.“ Auch Jacques Fesch, dieser wegen Mordes zum Tod verurteilte junge Mann, wird zwar mit außerordentlichen Gnaden der Tröstung beschenkt, erlebt jedoch trotzdem Momente extremer Angstzustände. Seine Briefe bringen das sehr bewegend zum Ausdruck.

Bleibt dem Heiligen also die Angst nicht erspart?
P. Quilici: In Seiner Agonie hat Jesus selbst Angst durchlitten. Die Heiligen und die Märtyrer vertrauen auf die Worte des Herrn: „Fürchtet euch nicht vor jenen, die den Leib töten…“ (Mt 10,28) Das Evangelium ist ein großes Trostbuch. Man erkennt das in den Gleichnissen. Gott ist zwar anspruchsvoll, aber Er spendet auch Trost. Gleiches gilt für die Erziehung: Ich halte viel davon, dass Eltern ihre Kindern mit Worten bestärken, sie ermutigen, trösten. Wie viele vernachlässigen das, weil sie zu beschäftigt sind. Damit versäumen sie aber eine ihrer wichtigsten Aufgaben: Abbilder der Güte des Vaters im Himmel zu sein.

Wovor fürchtet man sich zurecht?
P. Quilici: Gott zu verraten, zu sündigen, eingegangenen Verpflichtungen nicht nachzukommen – davor soll man sich hüten. Man bedenke die Worte, die der heilige König Ludwig am Sterbebett an seinen Sohn gerichtet hat: „Bewahrt Euch vor allem vor der Todsünde“, vor jener Sünde also, von der wir wissen, dass sie uns endgültig von Gott trennt, wenn wir nicht um Vergebung bitten. „Fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann,“ sagt Matthäus.
Die Angst vor dem Versucher ist eine heilsame Angst, die uns wachsam sein lässt. Wir müssen gegenüber der Versuchung wachsam sein. Die größte ist der Stolz. Halten wir jedoch Prüfung und Versuchung auseinander: Der Teufel will uns zum Bösen verführen und uns zu Fall bringen, Gott hingegen lässt die Prüfung zu, damit wir in ihr wachsen können. Das ist wie die Prüfungen, die der Schüler bestehen muss, um in die nächste Klasse aufzusteigen.
Gegen einen geistigen Gegner muss man geistige Waffen einsetzen: ein Kreuzzeichen, wenn der Kampf zu heftig wird, sich der Fürsprache der Gottesmutter anvertrauen, einen Rosenkranz beten, einen Kreuzweg gehen, auf ein nicht wirklich benötigtes Vergnügen verzichten… Das heißt die richtige Position im Kampf, der zu führen ist, beziehen.

Manchmal ist von der Gottesfurcht die Rede. Warum sollte man Gott, der doch gut ist, fürchten?
P. Quilici: Man kann Angst vor Gott haben, wenn man sich eine falsche Vorstellung von Ihm macht. Das hängt mit der Sünde zusammen: „Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich,“ gesteht Adam in Genesis 3,10. In „Dies irae“, ehemals ein Hymnus der Totenmesse, hieß es: „Welch ein Zittern wird dann sein, wenn der Richter kommen wird, der alles streng untersuchen wird!“ Es ist zwar eine berechtigte, aber auch ziemlich übertriebene Angst, die vor dem allmächtigen Rächergott. Heute verfällt man ins andere Extrem: Gott sei so gut, dass Er alles vergibt und so singt man recht schamlos: „Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel…“ Wir, die wir das Antlitz des Vaters des verlorenen Sohnes vor Augen haben und im Herzen tragen, haben jedenfalls keine triftigen Gründe, uns vor Ihm zu fürchten.
In Anbetracht des Leidens einiger Heiliger, fürchten sich manche Gläubige davor, dass Gott sie überfordern könnte: So kann man erschrecken wegen der langen Periode geistiger Trockenheit von Mutter Teresa oder wegen der Drangsale des heiligen Franziskus von Assisi. Ich erinnere mich an einen Burschen, der aus lauter Angst, der Herr könne ihn zum Priester berufen, aufgehört hatte zu beten, um nur ja keinen Anruf zu hören. Die richtige Haltung demgegenüber ist, sich nicht zu fürchten, wohl aber Gottesfurcht zu empfinden.

Was ist da der Unterschied?
P. Quilici: Die Gottesfurcht ist eine respektvolle, ehrfürchtige Haltung. Sie rührt daher, dass Gott eben Gott ist, dem Menschen in keiner Weise vergleichbar. Das Bewusstsein, wer Gott ist, der Allmächtige, der Heilige, der Gerechte, löst im Menschen einfach zwangsläufig ein Bewusstsein der Nichtigkeit aus. Das ist der zutreffende Respekt des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, des Petrus vor dem Auferstandenen. Das ist keine kriecherische Angst, sondern eher die Furcht, dem wehzutun, dem man alles verdankt und der uns liebt. Wie man es den Kindern sagt: sich davor zu hüten, Kummer zu bereiten. Der heilige Augustinus drückt das so aus: „Da ist einerseits die Angst, Gott  könnte dich mit dem Teufel in die Hölle werfen, andererseits aber die Furcht, Gott könnte sich von dir zurückziehen.“

P. Alain Quilici OP ist Mitglied des Dominikaner-Konvents in Toulouse und Autor mehrerer Bücher, darunter: Crainte de Dieu et peur du Diable. Das Interview in „Famille Chrétienne“ v. 2.2.08 führte Florence Brière-Loth.

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