VISION 20004/2013
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Die Kinder in die Mitte stellen

Artikel drucken Über die Notwendigkeit, das Kind seiner Entwicklung entsprechend zu fördern (Von Christa Meves)

Jedes Kind ist an jedem Tag neu, anders. Es entfaltet sich ja, ist ein sich Schritt um Schritt  änderndes Wesen! Dass wir als Erziehende die Lenkung und Be­glei­tung dieses Geschehens als äu­ßerst wertvolle, beglückende, er­fül­len­de Aufgabe ansehen, ist leider nicht selbstverständlich.

Das liegt daran, dass viele Menschen von der Wahrheit abgewichen sind, dass Christus uns einen Auftrag gibt, indem er das Kind in unsere Mitte stellt. Das heißt: Die liebevolle Bemühung um das Kind ist ganz zentral wichtig zu nehmen! Erst mit dieser Einstellung wird alles richtig, erst mit dieser Einstellung können wir auf Erfolg hoffen. Allerdings brauchen wir dazu auch Kenntnisse. Wie sehr lässt sich durch sie doch die Freude am Erziehen noch steigern!
Die körperliche und seelisch-geistige Entfaltung unserer Kinder geschieht nämlich in Phasen, in Zeitfenstern, so nennt das die neue Hirnforschung. Und so ist das gesunde Aufwachsen, besonders während der Konstituierung des Gehirns,  von gekonnten, zeitgerechten Einwirkungen der Umwelt auf den jeweiligen Reifungsgrad des Kindes abhängig.
Das heißt: Bestimmte Lernschritte wollen zu jeweils bestimmter Zeit vollzogen sein, damit im Gehirn ein ausgeglichenes Maß und ein Sprießen seiner Synapsen, der Verbindungen zwischen den Neuronen, entsteht. Das können Forscher heute an der entsprechenden Intensität verschiedenster Hirn­aktivitäten ablesen. So geht z.B. das Zeitfenster zum Laufen-Lernen gegen das Ende des ersten Lebensjahres auf. Es endet, wenn sich das Kind auf die Beine gestellt hat.
Das müssen Erziehende wissen und mit kleinen Hilfen unterstützen, wenn sie es am Kind beobachten: wenn also das Kind anfängt, Versuche zu machen, sich aufzurichten. Allerdings gibt es dabei leicht einmal ein Zu-früh oder ein Zu-spät. Ein Zu-früh wäre es dann, wenn man mit einem halbjährigen Säugling laufen übt (dann bekommt das Kind O-Beine und eine Einbuße seiner motorischen Aktivitätsbereitschaft). Oder es geschieht ein Zu-spät. Das bekommen wir z.B. zu sehen, wenn Kinder in dieser Phase lange bewegungslos liegen müssen – etwa aus krankheitsbedingten Gründen. Auch das mindert die Impulsbereitschaft, und es bedarf der therapeutischen Hilfe, um das Laufenlernen, das in der entsprechenden Phase verpasst wurde, nachzuholen.
Dieses Beispiel soll zeigen, dass zu frühe Einwirkungen von außen, also solche, die im Entfaltungsprozess noch nicht „dran“ sind, ebenso wie zu späte Behinderungen bei der Entfaltung hervorrufen können – und zwar in jeder Entwicklungsphase nach dem gleichen Muster.
Weil aber das Kind in unserer Gesellschaft nicht mehr in der Mitte steht, wie es ihm gebührt und erforderlich ist – man sieht ja die Notwendigkeit der christlichen Einstellung für die Bewahrung seiner Unverletzlichkeit gar nicht mehr ein – gerät unsere Gesellschaft immer mehr in Gefahr, mit dem Kind wie mit einer Schachfigur umzugehen. Aber dadurch kann seelische Behinderung entstehen, so dass seelische Verzögerungen, ja im übelsten Fall sogar Stillstand der Entfaltung erfolgen kann.
Ein besonders schwerwiegendes Risikopotential besteht z.B. deshalb in dem mächtig forcierten gesellschaftlichen Trend, Babys und Kleinkinder so rasch wie möglich in kollektive Fremdbetreuung zu geben. Denn bis ins dritte Lebensjahr hinein ist das Zeitfenster zum Lernen von Bindung an eine Person geöffnet, an eine Person, wohlgemerkt, die es konstant Tag und Nacht betreut, mit besonderer Intensität in den ersten 18 Monaten durch das Natürlichste von der Welt: die Bindung des Kindes an seine leibliche Mutter.
Diese Einsicht ist wissenschaftlich abgesichert, aber den meisten Eltern unbekannt. Und so lassen sie sich leicht von den lautstarken Sirenenklängen der Trends in unserer Gesellschaft abholen. Und so setzen sie uneinfühlsam und ignorant auf eine frühe Fremdbetreuung ihrer Babys – ein schwerwiegender Fehler, der uns hierzulande bereits Tausende und Abertausende von seelisch, oft auch süchtig erkrankten Menschen beschert hat. Das größte Potential ist dabei unter den Krippenkindern aus der ehemaligen DDR zu finden.
Geradezu als Verführung muss man es deshalb bezeichnen, dass Krippenbetreuung unter der Devise angepriesen wird, dass die Kinder dadurch eine bessere Bildung erfahren würden. Das ist nichts als eine bedenkliche Au­gen­auswischerei. Denn durch Nichtbeachtung der Entwicklungszeitfenster – hier durch eine gefährliche, zu frühe Trennung von der leiblichen Mutter und zu frühem Zwang zur Gemeinschaft mit Gleichaltrigen – entsteht weder eine bessere Gemeinschaftsfähigkeit noch eine bessere konzentrierte Lern- und Leistungsfähigkeit!
Die optimalen Voraussetzungen dazu werden vielmehr durch viel liebevolles, hellhöriges Beschäftigen der Mutter mit ihrem Kleinkind im familiären Umfeld geschaffen, besonders dann, wenn es dort viel Gleichmaß und ruhige Zonen gibt. Die besten Voraussetzungen zu späterer seelischer Gesundheit entstehen deshalb bei Kindern, die in einem konstanten familiären Umfeld sich allmählich in die Welt hineinfinden und sich mit ihr durch besinnlich spielendes Begreifen bekannt machen.
Wir haben dafür viele Beweise, nicht nur durch die Langzeitstudie NICHD in den USA, sondern auch durch die Begleitung vieler Einzelschicksale. Ein hübsches Beispiel positiver Art besteht z.B. in der Beobachtung, dass es häufiger die ältesten Kinder aus gesunden Familien sind, die in der Schule erfolgreich sind. Bei genauer Nachfrage ergibt sich dann, dass deren Mütter – meist voll stillend – sich für ihre Säuglinge eben viel Zeit nahmen, mehr Zeit als sie je wieder mit nachgeborenen Geschwistern hatten! Ein unverdienter Bonus eines Ältesten in der Geschwisterreihe!
Aber nicht nur in dieser ersten Lebenszeit ist für den instinktlos gewordenen Menschen der Moderne Wissen um die Entfaltungsbedingungen des Menschen von großer Dringlichkeit. Jedes einzelne Alter hat sein besonderes Zeitfenster. Wenn den Erziehern bekannt ist, was in der Ausgestaltung der Seele gerade eben „dran“ ist, kann mit erzieherischer Souveränität auf das Kind eingewirkt werden.
Im dritten bis fünften Lebensjahr z. B. steht die Ausgestaltung des Selbstbehauptungstriebes an. Das ist eine extrem egozentrische Phase, in der der Lebenstrieb dem Menschen befiehlt, sich Spielraum pur zu verschaffen, nicht anders, wie es jede junge aufkeimende Pflanze in unserem Garten versucht. Jeder Gärtner weiß, dass er den Spielraum des jungen Pflänzchens begrenzen muss, damit wilde maßlose Wucherung vermieden wird. Genauso ist es die Aufgabe der Erzieher, dem noch unerfahrenen Kind zwar viel Spielraum, aber auch Grenzen zu setzen.
Sich in dieser Weise an die Zeitfenster der seelischen Entfaltung zu halten, kann optimalen Erfolg zeitigen. So ist das Zeitfenster der Adoleszenz z. B. der 16-19-Jährigkeit, auf die seelische Erwartung des jungen Menschen eingestellt, über den Tel­ler­rand seines Ego hinauszuwachsen, hinein in eine Mitverantwortung für die anderen…
Ungut wirkt sich deshalb ein ideologischer Stil in der Pädagogik aus, der – einst jahrzehntelang als antiautoritäre Erziehung verkauft – jetzt als das Modell „autarkes Kind“ erneut Urständ feiert. Eine alles-laufen-lassende Erziehungsform, nicht nur in der Familie, sondern auch noch in der Schule, bringt bei unseren Wunderblumen keine Blütenpracht hervor. Sie ist nicht auf ein fürsorgliches Beachten der Reifungsgrade des Kindes gerichtet und dient damit nicht dem Kindeswohl, sondern setzt ein starres, dem Kind unangemessenes Konzept dagegen. Sie endet in leistungsschwacher, horrender Disziplinlosigkeit, wo immer dieser falsche Ansatz versucht wird.
In den USA züchtete man auf diese Weise ein Heer von Verwahrlosten, nachdem man dieses Prinzip über zwei Jahrzehnte weitverbreitet versucht hatte. Man könnte meinen: Das wäre doch wohl genug Großexperiment mit fatalem Ergebnis. Aber diese Einsicht ist nicht im mindesten vorhanden: Nun wird in der Schulpolitik der Versuch erneuert, das Finden von Lernschritten den Schülern selbst zu überlassen. Aber das entspricht nicht den geistigen Lernbedürfnissen der Menschen. Wir sind mit einem starken Nachahmungstrieb auf dem Boden einer hierarchischen Lernstruktur ausgestattet. Wir richten uns praktisch automatisch nach Vorbildern, Vormachern, die einen nachahmenswerten höheren Entwicklungsstatus, beim Lehrer auch einen speziell höheren Ausbildungsstatus besitzen… Auf diese Weise lernt das Kind! Daher will es in der Schule vor allem angeleitet werden. Durch die erwähnte ideologische Erziehungsform, die „Antipädagogik“, wie sie zur Zeit Urständ feiert, kann das jedoch nicht erfüllt werden.
Noch ein weiteres Gebiet möchte ich streifen, aus dem ersichtlich wird, wie wenig unsere Kinder heute im gesellschaftlichen Bereich so behandelt werden, wie es von unserem Gott den Erziehenden als vor Ihm zu verantwortendes Tun ins Stammbuch geschrieben worden ist: Die zur Zeit rasch vorangetriebene Tendenz zur Vereinnahmung der Kinder durch den Staat: Sobald wie möglich versucht man, sie der Familie zu entziehen – und dies auf dem Boden einer destruktiven Gleichheitsideologie. Deshalb strebt unsere atheistische Neidgesellschaft immer mehr Kollektiv­erziehungspflicht an! Deshalb steht Kindergartenpflicht ab drei im EU-Raum vor der Tür. Verpflichtende Vorschule ab fünf wird diskutiert. Die Einheitsgroßschule mit Massen von Kindern und Massen von Lehrern, die sich untereinander nicht einmal mehr kennen, mit obligatorischem Ganztagsunterricht wird zur Zeit in Deutschland vorangetrieben.
In den Staaten Europas sind unsere Kinder da einer schrecklichen Dampfwalze ausgesetzt. In einigen Ländern wird darauf – der Not gehorchend – mit katholischen oder evangelikalen Privatschulen reagiert, in einigen anderen, etwa auch in Österreich antworten kompetente Eltern auch mit „homeschooling“ – in Deutschland jedoch verboten – nachgewiesenermaßen mit allerbestem Erfolg. Denn der Kräfteverschleiß, dem unsere Kinder in vielen staatlichen Schulen (auch durch die weiten Schulwege per Bus durch deren Zentralisation) ausgesetzt sind, ist erheblich.
Was können bewusst christliche Eltern gegen diesen Ungeist tun? Das liebevolle Beobachten und Begleiten der Kinder in einem im Alltag gelebten Christentum wird da eine höchst erfolgreiche Waffe sein. Informiertheit und die richtige Einstellung sind weitere entscheidende Voraussetzungen zum Erziehungserfolg.

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