VISION 20006/2014
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Viel Freude mit Thais

Artikel drucken Rückblick auf eine schöne, schwere Zeit

Thais ist mit knapp vier Jahren gestorben. Als sie zwei war, erfuhren ihre Eltern, dass sie an einer unheilbaren Nervenkrankheit litt, die zum fortschreitenden Abbau aller Fähigkeiten führt: Bald konnte sie nicht mehr gehen, nicht mehr sitzen, nicht mehr sprechen, schließlich wurde sie blind, später taub… Über ihre Erfahrungen während dieses letzten Lebensabschnitts der Tochter hat Anne-Dauphine Jullian ein Buch geschrieben. Im folgenden ein Auszug aus einem Interview mit ihr.

An wen richtet sich eigentlich Ihr Buch?
Anne - Dauphine Julliand: Mein Buch wendet sich nicht nur an Menschen, die mit dem Tod ihres Kindes konfrontiert sind, sondern an alle Eltern. Mein Mann und ich, wir haben im Zuge dieser Krankheit vieles gelernt, was wir weitergeben wollten. Als diese Prüfung über uns hereingebrochen ist, beschlossen wir, uns für das Glück zu entscheiden – mit aller Willensstärke. Wir hätten auch das bevorstehende Elend ins Auge fassen und uns darin einsperren können. So aber stand unser Entschluss fest: Den Tagen Leben einzuhauchen und so normal wie möglich weiterzuleben, ausgerichtet auf Thais. Wir haben sie so angenommen, wie sie eben war. Seither hat sich unser Zugang zur Kindererziehung verändert. Mit Thais haben wir gelernt, jedem Kind zu vertrauen und es auf seinem Weg zu begleiten. Ich bin eine glückliche Frau. Das mag abnormal erscheinen, aber es ist nun einmal so. Zwar haben wir eine tiefe Traurigkeit erlebt, Thais verloren zu haben, jedoch auch eine große Lebensfreude.

Haben Sie sich nie innerlich aufgelehnt?
Julliand: Wir haben nicht zu kämpfen versucht, haben uns nicht aufgelehnt, sind nie verzweifelt. Thais hat uns gezeigt, dass man sich nicht fragen sollte, warum etwas geschieht. Dieses Warum macht einen nur verrückt; da gibt es keine Antwort. Die Frage, die sich am meisten aufgedrängt hat, war: Wie? – wie gehen wir mit dieser Katastrophe um? Um zu überleben, fassten wir den Entschluss, von Tag zu Tag zu leben, nicht um einen mehr. So wie die Kinder. Das war keine Lebensregel, sondern eine Frage des Überlebens. (…) Manche meinen, das sei kein Leben gewesen. Sie können sich wohl nichts anderes als eine Existenz voller Bewegung vorstellen. Für Thais aber war es eben ihr Leben. Die Lage war vorgegeben. Aber was werde ich aus ihr machen? Mein Mann und ich wollten glücklich sein. So lag es an uns, positive Aspekte der Tage mit Thais zu entdecken, nach Momenten des Glücks Ausschau zu halten: die Waschzeremonie, die sie liebte, das Versteckspiel von ihrem Bett aus, das Feiern, wenn sie vom Spital heimkam. Sie blieb ein Kind, manchmal allerdings mit einem Ernst und einem Tiefgang, die uns übertrafen: in der Art, wie sie alles annahm, wie sie uns andere Sprachen beibrachte, als ihr die Worte, das Sehen, das Gehör abhanden kamen. Im Nachhinein haben manche Leute gemeint, wir hätten gar nicht wahrgenommen, dass sie nicht mehr redete, so intensiv war unser Kontaktaustausch.

Gegen Ende von Thais Leben haben Sie nicht auf massiv lebensverlängernde Maßnahmen bestanden. Warum?
Julliand: Wir haben begriffen, dass eine Existenz von 3,75 Jahren (die drei Viertel sind mir wichtig) ein vollständiges Leben sein kann. Wir haben diese Zeit angenommen, wie sie nun einmal war. Sobald man das akzeptiert hat, besteht keine Notwendigkeit, weitere Tage hinzuzufügen. Das ermöglicht einen tiefen Frieden. Das war der Schlüssel zum glücklich Sein und ein viertes Kind zu bekommen. Früher habe ich mir Sorgen wegen der Kinder gemacht. Heute erhebe ich keinen Anspruch auf ein überzogenes Glück und mich quält keine von Sorgen überfrachtete Angst mehr…

Woher nehmen Sie ihre Kraft und diese Freude?
Julliand: An manchen Tagen war ich zu nichts fähig. An anderen ging es vorwärts. Ein krankes Kind setzt unvorstellbare Kräfte frei; irgendwie bin ich darauf stolz, hätte aber im Voraus nie gedacht, dazu imstande zu sein. Die Liebe meines Mannes, die Stabilität unserer Ehe – beides hätte in Brüche gehen können – haben es mir ermöglicht, weiter zu machen. Auf den anderen achten, auf seinen Schmerz eingehen, obwohl man selbst verletzt ist, all das erfordert eine große Willensanstrengung. So haben wir uns immer bewusst gemacht: Wenn wir da lockerlassen, sind wir verloren. (…) Zu zweit konnten wir aber nicht untergehen. Und dann haben natürlich unser Glaube, die Gnaden, die wir empfangen haben, unseren Tagen eine neue Dimension gegeben. Ich glaube an das ewige Leben meiner Thais und meine Hoffnung, sie wiederzusehen, beflügelt mich: Das Kreuz und das Leid sind eng verbunden.

Auszug aus einem Interview von Florence Brière-Loth in Famille Chrétienne v. 9.4.11. Siehe dazu auch  Deine Schritte im Sand. Von Anne-Dauphine Julliand. Bastei Lübbe, 9,99 Euro und das ausführliche Interview  in kto, abgedruckt in VISION 4/11

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