VISION 20006/2014
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Die Familie: Berufung zur Liebe

Artikel drucken Die Schönheit der Lehre hervorkehren (Juan José Pérez-Soba & Stephan Kampowski)

In einer Zeit so großer Verwirrung, was Ehe und Familie anbelangt, ist die Kirche die wichtigste Institution, die ein menschenwürdiges Leitbild vertritt. Sich klar zu diesem Leitbild zu bekennen, ist die Herausforderung für die Hirten der Kirche.

Dass menschliche Fortpflanzung von höchster persönlicher Bedeutung ist, wird einfach geleugnet, im Gegensatz zur gelebten Erfahrung der meisten Menschen fast aller Altersstufen. Ist nicht auch heute das Vater- oder Mutterwerden eines der bedeutendsten Ereignisse im eigenen Leben, das es am meisten verändert?
Ein Mann, der Vater wird, und eine Frau, die Mutter wird, sind nicht mehr dieselben. Die neue Beziehung zum Kind bringt eine tiefe Veränderung für die personale Identität mit sich, und sie verändert auch die Beziehung zwischen Mann und Frau, die jetzt mehr sind als zwei Liebende: Sie sind der Vater und die Mutter des Kindes des jeweils anderen geworden. Gerade durch ihre prokreative Dimension offenbart die menschliche Sexualität dem Menschen eine Berufung, einen Ruf zur Transzendenz, einen Aufruf, über sich selbst hinauszugehen.  Die heutige Kultur läuft Gefahr, all dies aus dem Blick zu verlieren. (…)
Was wir sehr viel mehr ersehnen als sexuelle Befriedigung, ist, dass unser Leben fruchtbar ist, dass wir  Zeichen im Leben eines anderen hinterlassen (und was könnte ein größeres Zeichen im Leben eines Menschen sein, als einen Menschen ins Leben gerufen zu haben?), dass wir nicht umsonst gelebt haben, sondern anderen Leben geschenkt haben.
Was wird mit einer Generation geschehen, der man beigebracht hat, dass derartige Wünsche roher Biologismus sind?
In der Zeit einer radikalen anthropologischen Revolution können wir es uns nicht erlauben, Zeit mit Problemen zu verbringen, die vor vierzig Jahren wichtig waren und die nur im Kontext einer zumindest nominell christlichen Kultur im Westen zutage getreten sind. Diese Kultur existiert nicht mehr. Die gegenwärtige Kultur der westlichen Welt ist eine Kultur, in der unsere Zeitgenossen versuchen, die Schöpfungswahrheit „Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27) auszulöschen. Darüber hinaus ist die universale Kirche größer als der Westen, wo dieses Problem deutlicher zu spüren ist. Mit einer unzulässigen Betonung des Problems der wiederverheirateten Geschiedenen laufen wir Gefahr, der Gesamtkirche eine eurozentrische oder auf den Westen zentrierte Perspektive aufzuerlegen und so die Interessen derjenigen Ortskirchen zu ignorieren, die andere Sorgen haben.
Im Gegensatz dazu haben die von der Gendertheorie gestellten Herausforderungen Bedeutung für die Perspektive der Gesamtkirche. Ihre Wichtigkeit für die Verkündigung des Evangeliums darf nicht unterschätzt werden. Eine Synode, die über die pastoralen Herausforderungen für die Familie im Kontext der Evangelisierung berät, würde sicherlich gut daran tun, dieses Thema anzuschneiden, weil es das Herz des Christentums berührt. Benedikt XVI. hat in den ersten Monaten seines Pontifikats in der Ansprache an die Teilnehmer der Pastoraltagung der Diözese Rom eine Tatsache behandelt, die so offensichtlich ist, dass sie leicht übersehen werden kann: „Das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen erhält seine sprachliche Gestalt aus dem Vokabular von Ehe und Familie.“ Gott hat sich selbst als Vater offenbart; Jesus bezeichnet sich selbst als Sohn Gottes, der uns befähigt, Gottes Söhne und Töchter zu werden, was Gläubige zu tatsächlichen und alle Menschen zu potenziellen Brüdern und Schwestern werden lässt. Nach der Heiligen Schrift ist die Kirche die Mutter aller Gläubigen (Gal 4,26) und die Braut Christi (Offb 21,9). Welche Bedeutung könnte diese Verkündigung des Evangeliums noch haben, wenn die Menschen nicht länger im Schoß einer Familie geboren und aufwachsen würden? Sie wären nicht länger im Besitz der fundamentalen Erfahrungen, die im Zentrum des christlichen Glaubens stehen: Brautschaft, Elternschaft, Kindschaft, Geschwisterlichkeit. Der Glaube würde für sie ganz einfach unverständlich werden.
Einige westliche Bürokratien gehen im Gender-Mainstreaming mittlerweile so weit, dass sie die Worte „Vater“ und „Mutter" aus Dokumenten und offiziellen Formularen streichen und diese anscheinend tadelnswerten Begriffe durch die annehmbareren Ausdrücke „Elter l“ und „Elter 2“ ersetzen. Die Genderideologie wurde im Westen in die schulischen Lehrpläne eingeführt und wenn die Kirche weiter schweigt, dann könnte in ungefähr zwanzig Jahren das „Vaterunser“ für fromme, gender-gemainstreamte Ohren anstößig klingen. Das könnte so weit gehen, dass Eltern, die ihren Kindern das Vaterunser beibringen, das Sorgerecht verlieren und ins Gefängnis wandern.
Da der Katechismus der Katholischen Kirche unter Nummer 2358 Homosexualität als „Neigung, die objektiv ungeordnet ist“, bezeichnet, könnte er früher oder später auf dem Index moralisch sensiblerer Regierungen landen, die rigoros das Recht jedes Menschen hochhalten, nicht diskriminiert zu werden.
Wir sehen, dass viel auf dem Spiel steht und dass die Kirche viel zu tun hat, um die Schönheit der sexuellen Differenz zu verkünden und zu erklären, die, wie Luce Irigaray sagt, das Thema unserer heutigen Zeit ist. Die Kirche muss zeigen, dass die sexuelle Differenz mit unserer Berufung zur Liebe zusammenhängt und mit unserer Berufung, Leben zu gestalten, die fruchtbar sind. Bahnbrechendes hat in diesem Zusammenhang Papst Johannes Paul II. mit seiner Theologie des Leibes geleistet. Wir sehen auch die Notwendigkeit, besser zu erklären, dass Unterscheiden und Differenzieren nicht automatisch Diskriminieren bedeutet, dass eine Neigung ungeordnet zu nennen, nicht bedeutet, den Menschen, der sie hat, als einen schlechten Menschen zu bezeichnen, und dass eine solche Neigung zugleich keine Rechtfertigung für frei gewählte Akte, mit der sie ausgelebt wird, ist.
All dies mag uns teuer zu stehen kommen, weshalb es wichtig ist, dass diejenigen, die im Namen der Kirche lehren, wieder ein Bewusstsein von der Schönheit und Kostbarkeit der Botschaft des Evangeliums erlangen. Der karitative Einsatz der Kirche auf der ganzen Welt verleiht ihrem Zeugnis große Kraft. Und doch darf sie nicht eine von vielen karitativen Organisationen sein. Als bloße Agentur für Sozialdienste ist die Kirche ersetzbar. Und ebenso reicht es nicht, über Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu sprechen, ohne darauf hinzuweisen, wie diese Liebe und Barmherzigkeit unser Leben berührt und verwandelt.
Gottes Barmherzigkeit ist eine heilende Barmherzigkeit, die uns wieder auf die Beine stellt, damit wir laufen können. Sie deckt unsere Wunden und Sünden nicht bloß zu, sondern sie verwandelt uns von innen her.
Angesichts des gegenwärtigen kulturellen Kontexts wäre es ein schrecklicher Fehler, auch nur entfernt den Eindruck zu hinterlassen, dass die mit der Verkündung der kirchlichen Lehre Beauftragten selbst nicht an die Unauflöslichkeit der Ehe, an eheliche Treue, eheliche Ausschließlichkeit und die Möglichkeit einer keuschen Enthaltsamkeit glauben, wenn dies die Liebe in besonderen Lebenssituationen erfordern sollte.

Auszug aus: Das wahre Evangelium der Familie (s. 47ff), siehe Besprechung Seite 22. Beide Autoren lehren am Päpstslichen Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie in Rom.

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