VISION 20004/2017
« zum Inhalt Schwerpunkt

Verkünden – und nicht nur weltlich argumentieren

Artikel drucken Herausforderung im Kampf gegen die Kultur des Todes (Christof Gaspari)

Seit rund 45 Jahren verfolge ich aufmerksam die gesellschaftliche Entwicklung in Europa. Das ist ein Zeitraum, indem sich Schritt für Schritt und von den meisten Menschen eher unbemerkt eine tiefgreifende Änderung des Wertegefüges ereignet hat. Ein kurzer Rückblick soll diese tiefgreifende Revolution in Erinnerung rufen.

Da war zunächst die Frage der Empfängnisverhütung. Von der Welt als große Befreiung der Sexualität, insbesondere jener der Frau, gefeiert, stieß sie auf den Widerstand der Lehre der Kirche. In seiner Enzyklika Humanae vitae warnte Papst Paul VI. davor, den Sexualakt systematisch unfruchtbar zu machen. Er wurde als lust- und fortschrittsfeindlich verlacht, seine Sichtweise sei typisch für Zölibatäre, die keine Ahnung vom Eheleben hätten und in die Schlafzimmer hineinregieren wollten. Seine Lehre wurde auch in weiten Kreisen der Kirche nicht befolgt.
Tatsache ist, dass alles, was der Papst an negativen Folgen vorhergesehen hatte, auch eingetreten ist: sexuelle Beziehungen wurden banalisiert, die Ehen destabilisiert, Frauen zu Sexualobjekten, Pornographie wurde zum weit verbreiteten Konsumartikel, Keuschheit zum Unwort, die Politik begann, Einfluss auf die Zeugung (insbesondere in der Dritten Welt) zu nehmen… Die Richtigkeit der kirchlichen Lehre wurde also von der gesellschaftlichen Entwicklung bestätigt, hatte aber kaum Einfluss auf deren Verlauf.
Nächste Etappe: die Abtreibung, wieder ein Projekt, das die Kirche abgelehnt hat, mehr oder weniger konsequent. Was war geschehen? Der lockere sexuelle Umgang erhöhte (trotz Verhütung, weil diese nie vollständig sein kann) die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften. Die Verhütungsmentalität hatte ein neues Bewusstsein geschaffen: Kinder sollten nunmehr nur Wunschkinder sein. Da setzte die Argumentation an: Wo kein Wunsch, da möglichst auch kein Kind, umso mehr als Schwangerschaft und Mutterschaft zu Lasten der Frauen gehen würden, was ungerecht sei. Also wurde der Lebensschutz für ungeborene Kinder – in unterschiedlichem Maß – aufgehoben. Dieses Eliteprojekt wurde mit Lügen salonfähig gemacht, von den Medien wohlwollend verbreitet und von den Gerichten mit Rechtsverdrehungen durchgewinkt – zunächst gegen die Meinung der Bevölkerung. Sie hat sich allerdings mittlerweile fast überall mit dem neuen Kurs angefreundet.
Da nun das Kind gewissermaßen zum Projekt geworden war, über dessen Zustandekommen die Eltern entscheiden konnten, war es naheliegend, auch für dessen „Produktion“ – sollte diese wegen mangelnder Fruchtbarkeit notwendig werden – geeignete „Instrumente“ zur Hand zu geben. Die im Tierreich erfolgreiche künstliche Befruchtung wurde auch beim Menschen angewendet.
Wieder gab es große Debatten, diesmal zum Thema „In-vitro-Fertilisation“. Wieder waren die Medien Wegbereiter dieses „Fortschritts“, wieder musste die Kirche nein sagen, wieder stand sie als fortschrittsfeindlich da. Und wieder hatte sie recht mit ihren Warnungen: Millionenfach werden Kinder künstlich zwar gezeugt, aber nicht eingepflanzt, sie landen im Tiefkühler, werden zu Forschungszwecken mißbraucht oder werden als Müll verbrannt; weit verbreitet werden Kinder, die zwar im Mutterleib heranwachsen, gezielt beseitigt, wenn ihre Zahl nicht den Vorstellungen der Eltern entspricht; und mittlerweile gibt es einen Markt für Leihmutterschaft, Frauen, die künstlich gezeugte Kinder für andere Leute austragen.
Sobald das Leben nicht mehr absolut tabu ist, sich eine Gesellschaft also mit dem Gedanken anfreundet, man könne nach eigenen Nützlichkeitsüberlegungen über das Leben anderer verfügen, wird sie anfällig dafür, dieses Denken überall dort anzuwenden, wo der Tod „nützlich“ zu sein scheint.
Und genau das geschah ab der Jahrtausendwende: Immer mehr Länder gehen dazu über, das Lebensende in die Verfügung des Menschen zu übertragen. Wieder verliert das Leben den Charakter des absolut schützenswerten, kostbaren Gutes. Auch hier waren wieder die Medien Vorreiter bei der Propagierung der Idee, wieder wurden hehre Werte in die Auslage gestellt: Der Anspruch auf Tötung bzw. die Beihilfe zum Selbstmord als Akte der Wahrung der menschlichen Würde gepriesen.
Man stellt extreme Leidenssituationen und die befreiende Tötung als Akt der Barmherzigkeit dar. Wieder sagte die Kirche nein. Sie erinnerte an die Fortschritte der Medizin, der es weitgehend gelingt, selbst schweres Leiden entscheidend zu lindern, sie verwies auf den Druck, dem Sterbende ausgesetzt werden und auf die Erfolge der Hospize, in denen Menschen am Ende ihres Lebens umsorgt sterben können. Und dennoch wird die Liste der Länder, die Euthanasie legalisieren, länger.
Ich belasse es bei diesem Rückblick. Er schien mir notwendig, um folgende Gedanken anzuschließen: Wir Christen haben in den vergangenen Jahrzehnten an vielen einzelnen Fronten gekämpft – und im Großen und Ganzen verloren. Das Bemerkenswerte daran: Verloren, obwohl wir die besseren Argumente hatten, besser die Folgen des „Fortschritts“, der uns verordnet wurde, vorhersahen. Genau das sollte uns zu denken geben.
Wir haben in den vielen Diskussionen, die über die Bühne gegangen sind, weltlich argumentiert, haben darauf hingewiesen, dass die vom „Fortschritt“ in Aussicht gestellte Nützlichkeit, sich auf lange Sicht in ihr Gegenteil verkehren würde. Was ja, wie gesagt, auch tatsächlich geschah. Dieses Bemühen war durchaus verdienstvoll. Wir konnten als Christen zeigen, dass wir im intellektuellen Diskurs bestehen können, die besseren Argumente auf unserer Seite haben. Und dennoch geht es weiter bergab. Warum?
Weil wir uns immer wieder neu auf einzelne Themen eingrenzen ließen. Weil wir dachten, die Aufrechterhaltung der Gesetze, also einer bestimmten Ordnung sei entscheidend. Weitgehend übersehen wurde aber, dass es um den Geist geht, der hinter der Ordnung steht. Und von diesem, dem Heiligen Geist, der unsere christliche Ordnung, unsere christliche Kultur hervorgebracht hat, hatten sich weite Kreise in Europa verabschiedet.
Das Nützlichkeitsdenken hatte längst weite Bereiche des Lebens ergriffen. Das Wirtschaften war in der Nachkriegszeit zum Heilsbringer schlechthin hochstilisiert worden. Konkurrenz, Wachstum, immer mehr Konsum von allem und jedem wurden zum Lebensinhalt vieler. Werbeslogans wie „Geiz ist geil“, „Geld macht glücklich“, „Ich will alles – und das sofort“ „Shopping macht happy“ blieben nicht ohne Folgen. Sie förderten Werte wie Gier, Völlerei, Neid, Stolz, Sofortbefriedigung, Hoffart, Geiz, Kampf…
Mein Eindruck: Diese letztlich entscheidende Front des geistigen Kampfes wurde sträflich vernachlässigt. An dieser Front hatte der Widersacher – weitgehend unbemerkt – schon große Siege gefeiert.
Das ist ein Grund, warum ihm der Durchbruch auch auf der Lebensfront gelungen ist. Die Völker Europas waren längst geistig geschwächt. Geschwächt war auch große Bereiche der reich gewordenen Kirche Westeuropas. Sie stellte sich zwar dem Kampf an der Lebensfront, verteidigte – nicht geschlossen, nicht  immer wirklich vehement – die Kostbarkeit des Lebens, verabsäumte aber weitgehend, das Ausmaß der Konfrontation beim Namen zu nennen: Dass hinter all den erwähnten Veränderungen, die zur Etablierung der Kultur des Todes geführt haben, der Widersacher des Herrn steht (siehe Beitrag S. 12-13).
Wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, dass wir in einem geistig radikal feindlichen Umfeld leben. Im heutigen Kampf geht es um das kostbarste Gut, das Leben des Menschen, der nach Gottes Abbild geschaffen und dem die Schöpfung anvertraut ist. Daher müssen wir Christen dazu übergehen, in allen unseren Bemühungen Gott, den Vater, zu bezeugen, unseren Herrn Jesus Christus ins Spiel zu bringen und jeweils um den Beistand des Heiligen Geistes zu bitten. Denn in letzter Konsequenz geht es in den umkämpften Bereichen darum, dass die Wahrheit, die Jesus Christus verkündet und der Geist, den Er uns geschenkt hat, unser Tun, Denken und Reden erneuern und bestimmen.
Es werden Orte der Hoffnung entstehen, an denen man an der Art, wie die Menschen dort miteinander umgehen, erkennt, dass jedes Leben kostbar ist. Und sie werden mutig Zeugnis geben, weil sie wissen, dass sie auf der Seite des Siegers, Jesus Christus, stehen. Genau das haben die Apostel am Anfang verkündet – ebenfalls in einem geistig feindlichen Umfeld.



© 1999-2024 Vision2000 | Sitz: Hohe Wand-Straße 28/6, 2344 Maria Enzersdorf, Österreich | Mail: vision2000@aon.at | Tel: +43 (0) 1 586 94 11