VISION 20004/2017
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Ist der Islamismus dem Islam fremd?

Artikel drucken Wichtige Klarstellungen (Annie Laurent)

Das Bewusstsein einer im christlichen Glauben verwurzelten europäischen Identität ist in großem Ausmaß in der Konfrontation mit dem Islam der Araber, Berber und Türken entstanden.
 
Das bezeugen markante geschichtliche Ereignisse: die Kreuzzüge, um die heiligen Orte zu befreien, die muslimische Besetzung von Teilen Südeuropas (Spanien, Portugal, Süditalien, die Provence) und die Kriege der Wiedereroberung, die diesem Zustand ein Ende bereitet haben, der Widerstand gegen die osmanischen Angriffe, die bei Lepanto, Belgrad und Wien gestoppt wurden, weiters die Razzien, die von nordafrikanischen „Barbaren“ verübt worden sind. (…) Vom 8. bis zum 20. Jahrhundert wussten die europäischen Völker, dass der Islam auf einer Ideologie beruht, die zwar eine religiöse Basis hat, aber durchaus eroberungslustig auf politischem und kulturellem Gebiet ist.
Durch den Schulunterricht, der den Islam heute meist als „tolerante“ Religion, als Opfer der europäischen „Arroganz“ darstellt, wird das alles ignoriert. Dieser schuldhafte Gedächtnisschwund bewirkt einen Pazifismus, der die eminent christliche Tugend der Tapferkeit ruiniert. Die mangelnde Glaubensweitergabe, der in Glaubensfragen vorherrschende Relativismus und der Glaubensabfall haben Europa blind für die Ambitionen des Islam gemacht.
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Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verwendete der Westen das Wort „Islamismus“, nur um die Religion und die Zivilisation der Muslime zu bezeichnen. Der selige Charles de Foucauld (1858-1916) hat in seinen Schriften nur vom Islamismus gesprochen. Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus tritt erst im säkularisierten, nachchristlichen Europa auf. Da wollte man im Islam nicht mehr den Erbfeind erkennen.
Man musste ihm ein aufgewertetes, beruhigendes Image verpassen. Mittlerweile versucht man uns klarzumachen, dass man nicht den Islam zu befürchten habe, sondern nur seine ideologische Ausprägung. Sie wird so dargestellt, als wäre sie der Religion eigentlich fremd. Gleiches geschieht mit dem Begriff Dschihad, der als geistiges und moralisches Unternehmen beschrieben wird.
Der Koran jedoch versteht darunter allerdings nur ein kriegerisches Unternehmen, ein Mittel, dem Islam weltweit zur Herrschaft zu verhelfen, Garant eines „Friedens“, der gleichbedeutend mit der Unterjochung der unterworfenen Völker ist. Nach dieser neuen Vorstellung sind Islamismus und Dschihad, die in ihrer äußersten Ausprägung den Selbstmord für Allah rechtfertigen, eine Fehlentwicklung, eine Häresie, ja eine Panne der Geschichte, Frucht der Erniedrigungen, die der Westen der muslimischen Welt zugefügt habe.
Aus Respekt vor den Personen darf man den Islam sicher nicht auf seine extremen Äußerungen reduzieren. Wer sich jedoch einen klaren Blick bewahrt, muss erkennen, dass diese Äußerungen dem Islam weder fremd sind, noch im Gegensatz zu ihm stehen. Ich verweise auf die Definition von P. Henri Boulad, einem ägyptischen Jesuiten: „Der Islamismus ist Islam in seiner ganzen Logik und Strenge. Er ist im Islam beheimatet wie das Kücken im Ei, wie die Frucht in der Blüte, wie der Baum im Samen.“ Zwischen Islamismus und Islam besteht somit ein Unterschied in der Abstufung, aber nicht in der Natur.

Die Autorin ist eine französische Journalistin und Schriftstellerin. Sie hat fünf Jahre im Libanon gelebt und wurde von Papst em. Benedikt XVI. berufen, als Expertin an der Bischofssynode für den Vorderen Orient teilzunehmen. Auszug aus einem Interview mit François La Choue in L’homme Nouveau v. 3.6.17.

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