VISION 20004/2017
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Was sie brauchen, ist Liebe

Artikel drucken Keine Hilfe zum Selbstmord :

Dr. Michael J. Brescia ist me­dizinischer Direktor und Mit­begründer von „Calvary Hospi­tal“ in Bronx/New York, ein Hospiz und eine Palliativstation. Im Folgenden ein  Interview über seine Erfahrungen.

Was macht die Einmaligkeit von Calvary Hospital aus?
Michael J. Brescia: Uns treibt eine Mission an, das Evangelium. In Calvary haben wir wirklich niemals und auf keine Weise absichtlich das Sterben beschleunigt. Wir stellen klar: „Wir lieben Sie so, dass wir Sie nie töten werden.“ Stellen wir ein unerträgliches Symptom fest, so behandeln wir es, bis Erleichterung eintritt. Unser Grundsatz: Beistand, Mitleid, Liebe, Freundlichkeit. Ich werde nie jemandem sagen, er müsse leiden, sondern mich bemühen, seine Schmerzen zu lindern.

Warum verlangen Ihrer Meinung nach Menschen ärztlich assistierten Selbstmord?
Brescia: Weil sie leiden, deprimiert, einsam sind, wegen physischer Merkmale und verzerrter Vorstellungen von sich selbst. Manche Leute haben Schuldgefühle. Sie denken: „Warum sollen andere sich um mich bemühen müssen? Wäre es nicht besser, ich wäre tot?“ In die Richtung gehen die Gedanken. Es fällt uns schwer, in elementaren Dingen von anderen abhängig zu sein. Als Menschen leiden wir dreifach: geistig, psychisch, gefühlsmäßig. Geistig insofern, als sich die Person im Bett fragt: „Gott, warum hast Du mir das angetan? Ich will einfach nicht hier sein.“ Weiters gibt es die Angst: „Gibt es Gott überhaupt? Weiß Er, was mir da zustößt? Kümmert es Ihn überhaupt?“ Eine Form des psychischen Leidens ist Depression. Um sie zu behandeln, gibt es ausgezeichnete Mittel. Am meisten aber leiden wir gefühlsmäßig – das Gefühl, verlassen zu sein, mangelnde Liebe. Behandeln kann man dieses Leiden nur durch Liebe.

Wie helfen Sie in Calvary jenen, die auf der Gefühlsebene leiden?
Brescia: Auf viererlei Weise. Zuerst heißt es, anwesend zu sein. Der Patient darf nicht allein bleiben. Man muss alles unternehmen, um ihm so viele Kontakte, so viel Anwesenheit wie möglich zu ermöglichen. Als nächstes: Berührung. Wenn wir jemanden berühren, sind wir nicht mehr derselbe wie vorher; es entsteht eine Bindung. (…) Wir müssen unsere Patienten berühren. Auf diese Weise kann man jemand lieben, wer immer es sei. Der dritte Ansatz: Jemanden halten, umarmen, damit er weiß, er ist nicht allein. Und der vierte Ansatz ist, es auszusprechen: „Ich liebe dich. Ich verspreche dir, dich nicht zu verlassen.“ Ich habe das tausendmal täglich gesagt. Man muss anwesend sein, berühren, halten und es aussprechen. Familien brauchen die gleiche Fürsorge wie die Patienten. Wir verbringen rund 80% unserer Zeit in Gegenwart der Familie. Sei anwesend, gib Information, berühre, halte sie und sage ihnen, dass sie ein Geschenk sind…

Wie stellen Sie fest, dass Ihr Ansatz erfolgreich ist?
Brescia: Jährlich behandeln wir 6.000 Patienten, und nicht einer von ihnen bittet nach 24 Stunden Aufenthalt um Hilfe zum Selbstmord. Keiner: unabhängig davon, was ihm fehlt – und wir haben schreckliche Fälle erlebt. Nicht, wenn man sie liebevoll umfängt. Wenn ich in das Zimmer eines Patienten gehe, bleibe ich stets an der Türschwelle stehen und bete: „Lieber Herr und Gott, meine Liebe zu Dir hat mich hierher geführt zu Deiner größeren Ehre.“ Dann ist es kein Patientenzimmer mehr, sondern ein heiliger Ort. Wenn man Gott bittet zu kommen, dann kommt Er. Ich weiß, Er ist hier. Ich spüre das. Und wenn jemand stirbt, meinst du dann, dieser Ort sei nur irdisch? Nein! Dann hast du den Vorraum zum Himmel betreten.
Können Sie ein Beispiel erzäh­len, an dem Sie das erlebt haben?
Brescia: Eines Tages war ich auf dem Weg nach Washington. Da bekam ich einen Anruf vom Metropolitan Hospital. Sie hatten eine Frau, die sie auf der Straße gefunden hatten. Ob sie diese nach Calvary schicken könnten? Sie hatte keine Familie, sprach nicht. Sie war dreckig und hieß Angela. Ich sagte: „Ok, wir nehmen sie.“ Als ich aufbrechen wollte, wurde Angela gebracht. Sie hatte einen Riesentumor, der hinten herausstand, struppiges rotes Haar, keine Zähne. Sie hatte Aids, Hepatitis, eine Unmenge infizierter Ausscheidungen. Unser Krebs-Spezialist war besorgt, als er mit seiner Arbeit beginnen sollte. Ich blieb einen Tag in Washington… Als ich zurückkam, ging ich, um nach ihr zu schauen. Unglaublich, was sie geleistet hatten. Sie hatten sie gesäubert, ihren Mund bearbeitet, ihr Haar und ihre Nägel auf Vordermann gebracht. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie begriffen, was da vorging. Ich sagte ihr: „Angela, ich verspreche ihnen, dass ich täglich dreimal nach ihnen schauen werde.“ Dabei dachte ich: „Dreimal werde ich hereinkommen, sie berühren und Gott sagen: ,Weil ich Dich liebe, gehe ich hin.’ Sechs Wochen später komme ich wieder aus Washington zurück, entmutigt. „Heute sehe ich sie nicht – morgen dann,“ denke ich. Aber dann der Gedanke: „Nein, geh doch lieber. Ich würde mich sonst am Abend elend fühlen.“ Ich gehe also hinauf, Angela liegt im Sterben. Ich ziehe den Mantel aus, nehme ihre Hand, lege sie an meine Wange und sage: „Angela, ich bleibe.“ Genau 90 Minuten später höre ich: „Dr. Michael, Dr. Michael.“ Ich traute meinen Ohren nicht, springe auf, drücke sie, so fest ich kann, an mich und sage „Angela?!“ Und sie: „Dr. Michael, heute Nacht, in ein paar Stunden sage ich Gott Ihren Namen.“ Dann kein weiteres Wort mehr. Sie schloss die Augen und verließ diese Erde.

Auszug aus „Imprint“, Frühjahr 2017, The Sisters of Life (Hrsg), www.sistersoflife.org

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