VISION 20001/2001
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Das Gewissen spricht leise

Artikel drucken Über die Gewissenslehre von Kardinal John Henry Newman (Hans Augustin und P. Hermann Geissler, FSO)

Daß der Mensch seinem Gewissen zu folgen habe, darüber herrscht heute weitgehend Einigkeit. Gestritten wird aber darüber, was unter Gewissen zu verstehen ist. Kardinal Newman hat dazu Wesentliches gesagt.

Einer der Studenten, der 1839 in Oxford sein Studium begann und später englischer Parlamentarier im Unterhaus wurde, Lord Coleridge, schreibt über John Henry Newman, seinen geistlichen Begleiter: “Zu meiner Zeit gab es einen Mann von bewundernswertem Geist, seltener Beredsamkeit, heiligmäßigem Lebenswandel, einzigartiger Demut und Selbstentsagung, der uns nicht irgend ein spezifisches Dogma, sondern die einfache Wahrheit des Glaubens lehrte.

Er stellte uns ein großes Vorbild vor Augen. Durch sein Leben und seine Vermittlung von Glaube richtete er unser Sinnen auf das “was liebenswürdig ist und dem guten Ruf dient" (Phil 4,8). Ihm verdanken viele Menschen in Kirche und Staat, daß in ihnen der Sinn für Verantwortung geweckt wurde, um nun ihrerseits ... ihre Pflicht gegenüber Gott und den Menschen zu erfüllen."

Zeitlebens bemühte sich Newman, die Menschen auf die leise Stimme des Gewissens hinzuweisen. In beinahe allen seinen Publikationen greift er dieses Thema auf. Deshalb kann er mit Recht “doctor conscientiae" - “Lehrer des Gewissens" - genannt werden.

Der Begriff “Gewissen" hat eine Reihe von unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Bedeutungen. Newman meint mit Gewissen nicht einen bloßen sittlichen Geschmack oder ein moralisches Empfinden, das von Person zu Person und von Tag zu Tag variiert. Und er versteht darunter auch nicht die Stimme des eigenen Ich: das persönliche Urteil, das nur zu leicht von Stolz und Eigenwilligkeit beeinflußt wird.

Gewissen ist auch nicht das, was mir am nützlichsten erscheint, die meisten Vorteile oder das größte Ansehen bringt. Gewissen hat nichts zu tun mit Willkür. Nach Newman bezeichnet das Gewissen “nicht eine bloße Einbildung oder Meinung, sondern den pflichtbewußten Gehorsam gegenüber jener inneren Stimme in uns, die beansprucht, Stimme Gottes zu sein."

Gewissen wird heute - und das schrieb Newman schon im 19. Jahrhundert - weitgehend ohne Bezug zum Schöpfer gesehen, weder in Gedanken noch in den Handlungen. Gewissen bedeutet im allgemeinen einfach das Recht, das zu denken, zu sagen und zu tun, was dem eigenen Urteil oder der eigenen Laune paßt, ohne Rücksicht auf Gott. Nach Newman ist das Gewissenlosigkeit.

Er ist fest davon überzeugt, daß das Gewissen nicht von Gott getrennt werden kann. Eine der schönsten Beschreibungen, was Gewissen ist, findet sich in seinem Brief an den Herzog von Norfolk. “Das Gewissen ... ist ein Bote von Ihm, der in Natur und Gnade wie durch einen Schleier hindurch zu uns spricht und uns durch seine Stellvertreter lehrt und lenkt. Das Gewissen ist der Stellvertreter Christi in unserem Innern, prophetisch in seinen Unterweisungen, fordernd in seinen Entscheidungen, priesterlich in Segen und Fluch. Auch wenn das ewige Priestertum in der ganzen Kirche aufhören könnte, so würde doch im Gewissen das priesterliche Prinzip erhalten bleiben und weiterherrschen."

So wie der Verstand und Wille des Menschen geformt werden soll, braucht auch das Gewissen Formung, Erziehung und Bildung. Es entspricht dem Willen Gottes, daß die Christen neben dem Mitgefühl und der Nächstenliebe auch gebildet sind.

Der Verstand befähigt zu erkennen. Und um die Wahrheit, zumal auf dem Gebiet der Ethik und Religion, erkennen zu können, bedarf es einer inneren Disposition, die Newman folgendermaßen beschreibt: “Das Forschen nach der Wahrheit ist keine bloße Befriedigung der Neugierde; ihre Erlangung hat nichts von der Erregung einer Entdeckung. Der menschliche Geist ist der Wahrheit unterworfen und herrscht nicht über sie, er ist verpflichtet ... ihr in Ehrfurcht zu begegnen."

Die Suche nach der Wahrheit setzt Demut und Ehrfurcht voraus, das Bewußtsein, daß die Wahrheit etwas den menschlichen Geist Überragendes, Großes, Wunderbares ist - und als Geschenk betrachtet werden muß.

Das bedeutet nicht, daß der Mensch sich nicht anstrengen muß, um die Wahrheit zu erkennen. Man kann die Suche nach der Wahrheit mit dem Erlernen des Gehens vergleichen: Gehen kann nur durch Gehen erlernt werden; wer sich nicht darauf einläßt, wird es nicht erlernen.

Ebenso können wir die Wahrheit nur durch den Gehorsam gegenüber der bereits erkannten Wahrheit erfassen. Wer sich mit der Wahrheit nur als Außenstehender befaßt, wird sie nicht finden. Newmans Gewissenslehre ist ein wunderbares Beispiel für die Bedeutung der Worte Christi: “Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht!" (Joh 3,21)

Das Gewissen ist der “Ort", an dem der Mensch in einem beständigen Dialog mit dem lebendigen Gott steht. Gott selbst nimmt im Gewissen das Gespräch mit dem Menschen auf. Jeder Mensch ist gerufen, sich in Ehrfurcht, Gehorsam und Hingabe dem Ruf Gottes im Gewissen zu stellen.

Newmans Lehre vom Gewissen entspricht genau dem, was das II. Vatikanische Konzil etwa 100 Jahre später über die Würde des sittlichen Gewissens sagt: “Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist."

Das Gewissen ist der geheimnisvolle Berührungspunkt des Menschen mit der personalen Wirklichkeit Gottes. Der Gehorsam gegenüber dem Gewissen befähigt den Menschen, das Herz für den Willen Gottes zu öffnen. Daher führt ihn dieser Gehorsam hin zum Gehorsam gegenüber dem Evangelium und der Kirche. Newmans Lebensweg ist ein klarer Beweis dafür. Gewissen und Kirche sind kein Gegensatz. Das recht geformte Gewissen sagt dem Katholiken: Höre auf die Kirche!

Denn jedermann weiß, daß das Gewissen auch irren kann und daß der Mensch - als Folge der Erbsünde - oft nicht deutlich unterscheiden kann zwischen Eigenwillen, Leidenschaften, Begierden und der Stimme Gottes im Gewissen. Darum braucht das Gewissen eine klare Orientierung.

Newman schreibt dazu: “Der Sinn für Recht und Unrecht, das erste Element in der Religion, ist so zart, so sehr den Zufällen unterworfen, so leicht zu verwirren, zu verdunkeln und ins Gegenteil umzukehren, so subtil in seiner Art zu argumentieren, so beeindruckbar durch die Erziehung, so von Stolz und Leidenschaft geleitet, so unstet in seinem Lauf, daß bei dem Kampf ums Dasein inmitten der verschiedenen Tätigkeiten und die Errungenschaften des menschlichen Geistes, dieser Sinn zugleich der höchste und doch der am wenigsten deutliche aller Lehrer ist und die Kirche, der Papst, die Hierarchie nach dem Plane Gottes die Abhilfe für ein dringendes Bedürfnis sind."

Die Bedeutung von Newmans Gewissenslehre liegt vor allem darin, die Würde und Verbindlichkeit des subjektiven Gewissens voll anzuerkennen, ohne an der objektiven Wahrheit der Offenbarung zu zweifeln.

Der Gehorsam gegenüber dem Gewissen, das vom Glauben geformt und erleuchtet ist, führt den Menschen Schritt für Schritt auf dem Weg der Bekehrung und inneren Erneuerung voran: hin zu seinem Ziel - zur Heiligkeit.

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