VISION 20003/2001
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Das Leben des Menschen hat Würde bis zuletzt

Artikel drucken Erfahrungen am Krankenbett der Schwiegermutter (Helmut Hubeny)

Vier Wochen nach ihrem 89. Geburtstag kam meine Schwiegermutter ins Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Infusionen, Untersuchungen, Herzschrittmacher, neue Medikamente ... Trotz überaus freundlicher ärztlicher und pflegerischer Betreuung, trotz täglicher Besuche aus der Familie wurde sie schwächer und verwirrter.

Der gnadenvollen Fügung zur rechten Zeit verdanken wir, daß unsere Mutter unmittelbar nach der Entlassung aus dem Spital im “Caritas Socialis" (CS) Pflegezentrum Rennweg wohnen darf. Seither hat sich ihr Zustand gebessert.

Die Welt ihrer Kindheit ist sehr lebendig in ihr geworden, und ihre Erinnerungen kämpfen mit dem Bemühen um Orientierung in ihrer neuen Umgebung. Sie weiß, daß sie durch körperliche Schwäche in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt ist, und daß sie nicht mehr allein leben kann. Diese Einsicht hilft ihr, sich schrittweise in der liebevollen Atmosphäre des Hauses wohlzufühlen (und das Essen schmeckt ihr auch wieder).

In diesen Wochen ist bei uns allen sehr viel in Bewegung gekommen. Unsere Tochter hat ihre Großmutter entdeckt: “Uns ist noch Zeit geschenkt. Ich möchte sie nützen, um in der Oma nicht nur die Mutter meiner Mutter mit all den belastenden Projektionen zu sehen, sondern meine Großmutter". Dadurch wurde der alten Frau nicht nur eine fröhliche Enkelin (samt liebenswertem “Schwiegerenkel") neu geschenkt, sondern auch ein weiterer herzlicher Zugang zu ihren kleinen Urenkelinnen eröffnet. Die kleinen Mädchen sorgen jedenfalls für Stimmung im Pflegezentrum.

Auch die Beziehung zwischen Tochter und Mutter hat sich durch ein lang gesuchtes offenes Gespräch vertieft. Damit hat sich nicht viel geändert, es bleibt manches im Bereich des “liebevollen, wertfreien Unverständnisses" - und doch hat sich alles geändert. Wir sind jedenfalls dabei, einander besser anzunehmen, auch wenn wir aneinander nicht alles verstehen.

Vor dem Tod meiner Mutter vor fast 20 Jahren hatten meine Frau und ich ein ganzes Jahr Zeit zur Versöhnung mit der Mutter. Wir haben einander wirklich vergeben. Der daraus entstandene innere Friede ist für mich bis heute spürbar. Ein großzügiger Chef und verständnisvolle Kollegen hatten mir damals durch Rücktausch der Arbeitszeit fast zwei Wochen lang ermöglicht, meine Mutter im Spital viele Stunden täglich bis in den Tod zu begleiten. Sie ist gestorben in der Gewißheit der Auferstehung.

Meine eigenen Lebenserfahrungen stimmen überein mit den Bemühungen christlicher und überkonfessioneller Organisationen um ein Leben in Würde bis zuletzt.

Die Leitlinien von Caritas, Hospizbewegung und Palliativgesellschaft habe ich bei einer Podiumsdiskussion “Evangelium - Leben für alle bis zuletzt (Sterbebegleitung - Hospiz - Euthanasie)" kennengelernt. Sie sind durch Selbstbestimmung, Wertschätzung, Pallativmedizin (lindernde Medizin), Begleitung Angehöriger, Trauerbegleitung und ehrenamtliche Mitarbeit gekennzeichnet.

Dazu gehört das Bewußtsein, “daß von einem gewissen Punkt an der Tod nicht mehr Feind des Menschen ist". Dann ist Linderung vor Heilung gefordert. An einem meiner besonderen Freunde, an einer engen Freundin unserer Familie und an den Pflegerinnen und Pflegern des Spitals und des Pflegezentrums meiner Schwiegermutter erlebe ich unmittelbar und persönlich beteiligt die geduldige Verwirklichung dieser Leitlinien. Die Haltung aus dem Glauben an die Auferstehung ist für mich die überzeugende Alternative zur letzten Aussichtslosigkeit der Euthanasie.

Die Osterliturgie haben wir heuer mit meiner Schwiegermutter im Rollstuhl gefeiert. Clemens M. Nowak, Seelsorger des CS Zentrums Rennweg, wies am Ostersonntag tröstlich darauf hin, daß die Auferstehung Christi von seinen Freunden nicht als Jubelfest erlebt worden war. Sie waren ängstlich, enttäuscht, und hielten die ersten Berichte der Frauen für Geschwätz. Wir sollten daher auch mit uns Geduld haben in der allmählichen Entdeckung der Osterfreude bei Altersschwäche und Krankheit.

Seit zwei Jahren auch im Ruhestand, wurde mir dabei klarer, daß nicht meine frühere effiziente Welt der Technik, der Ausbildung und der Forschung das Wesentliche ist, sondern die Welt des Miteinander - auch wenn sie sich uneffizient und gebrechlich darstellt. “Reich Gottes" hatte sie der Auferstandene genannt.

Ich spreche damit meiner technisch-wirtschaftlichen Welt nicht ihre Wichtigkeit ab, schließlich ermöglicht sie die materielle Sicherung einer fachkundigen Altenpflege (professionelle Geriatrie), einer wirkungsvollen Palliation (lindernde Medizin, Pflege und Betreuung) und nicht zuletzt meiner eigenen Pension. Ich will nur mir selbst und uns allen die richtige Reihenfolge in Erinnerung rufen.

Helmut Hubeny

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