VISION 20003/2001
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Sind denn die Evangelien überhaupt wahr?

Artikel drucken Zur umstrittenen Frage der Historizität der Schrift (Alain Bandelier)

In Gesprächen, vor allem mit theologisch Geschulten, bekommt man immer wieder zu hören, daß die Evangelien keineswegs historisch gesicherte Fakten berichten. Vielmehr seien sie eine Sammlung von eher legendenhaft zu deutenden Erzählungen, die den subjektiven Glauben der jungen Kirche wiedergeben...

Schon François Mauriac sah sich in seinem Werk “Vie de Jésus" mit der radikalen Kritik am historischen Gehalt der Evangelien konfrontiert. Er hat auf den Widerspruch dieser Extrempositionen hingewiesen: Wer jedes Zeugnis für das Übernatürliche in den Evangelienberichten als unglaubwürdig und legendenhaft verwirft, landet bei etwas noch Unglaublicherem.

Wie konnte denn dieser Galiläer, der letztlich nur ein illustrer Unbekannter gewesen sein und nichts gesagt und Außergewöhnliches getan haben soll, so tiefgreifend das Leben Seiner Jünger und die Geschichte der Menschheit geprägt haben?

Seit einem Jahrhundert ist ein großer Teil der Exegese in einer idealistischen Philosophie gefangen. Dieser Denkrichtung zufolge ist der Geist des Menschen unfähig, die Realität selbst zu erkennen, sondern nur ihre Erscheinung: nicht die Dinge selbst also, sondern nur die Ideen von den Dingen.

Es stimmt zwar, daß jeder Bericht definitionsgemäß keine einfache Fotographie des Ereignisses ist, sondern die Wiedergabe des Geschehens. Für einige aber ist diese Wiedergabe eine Rekonstruktion.

Das Werk von Bultmann ist typisch für diesen Zugang; direkt oder indirekt inspiriert es viele Autoren innerhalb und außerhalb der Kirche. Bultmann stellt den Jesus der Geschichte dem Christus des Glaubens gegenüber. Folgt man dieser Denkschule, dann weiß man vom Jesus der Geschichte nur, daß er gelebt und Jünger gehabt, vom Reich Gottes geträumt und einen tragischen Tod erlitten hat. Im Anschluß an die Osterereignisse entsteht in der Jüngergemeinde dann der Glaube an den auferstandenen Christus.

Diese Erfahrung sei rein subjektiv, um nicht gefühlsmäßig zu sagen. Sie sei mystisch. Man könne sie nicht als historisch bezeichnen. Sie würde so zu einer neuen Betrachtung des Vergangenen, ja zu seiner Rekonstruktion inspirieren.

Die christlichen Gemeinden würden erst mindestens 50 Jahre nach den Ereignissen ihre Meditationen und Predigten schriftlich festhalten. Und das habe dann das Neue Testament ergeben.

Die Spezialisten werden diese Zusammenfassung sicher in Frage stellen und mir vorwerfen, die Dinge nicht differenziert genug dargestellt zu haben. Ich denke aber, wir sollten mit offenen Karten spielen. Jedenfalls ist mit Erstaunen festzustellen, daß jeder Zugang zu den Texten, der sich außerhalb der Gemeinplätze dieser historisch-kritischen Exegese bewegt, sofort heftige Kritik auslöst oder stillschweigend auf den Index gesetzt wird.

Dabei mangelt es nicht an Gegenstimmen. Robinson, ein Anglikaner, hat gezeigt, daß die Zerstörung des Tempels von Jerusalem im Jahr 70 eine gigantische Erschütterung war, aber nicht in den Texten - die deshalb wohl praktisch alle vorher verfaßt wurden - aufscheint.

Philippe Rolland hat dies ganz zweifelsfrei vor kurzem für den Hebräer-Brief nachgewiesen. Und durch ihre Rückübertragung ins Aramäische und Hebräische haben P. Carmignac und Claude Tresmontant nachgewiesen, daß die Evangelien, die wir auf Griechisch haben, auf früheren semitischen Texten beruhen.

Ohne in diese technischen Debatten eintreten zu wollen, genügt es den Prolog zum dritten Evangelium zu lesen, um zu begreifen, wie sehr die Autoren des Neuen Testaments sich auf Fakten und nicht auf Ideen stützen (die Gelehrten sprechen von Theologumenen).

Das christliche Zeugnis stammt von Augenzeugen, die Diener des Wortes geworden sind (siehe Lk 1,2). Das 2. Vaticanum kann mit großer Klarheit festhalten: “Unsere heilige Mutter, die Kirche, hat entschieden und unentwegt daran festgehalten und hält daran fest, daß die vier genannten Evangelien, deren Geschichtlichkeit sie ohne Bedenken bejaht, zuverlässig überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat bis zu dem Tag, da er aufgenommen wurde." (Dei Verbum 19).

Alain Bandelier

Aus Famille Chrétienne v. 26.3.98

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