VISION 20002/2014
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Askese – mühsam, aber sinnvoll

Artikel drucken Damit der Mensch nicht willenlos seinen Leidenschaften folgen muss: (Von Univ. Doz. Raphael Bonelli)

Askese – klingt ab­schreckend, nach  zwanghafter Verordnung unsinniger Entbehrungen. Im Folgenden zeigt der Autor, dass eine aske­tische Haltung wesentlich für die persönliche Entfaltung ist, damit der Mensch nicht primär triebgesteuert agiert.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das durch Bemühung mehr es selbst werden kann – und durch Sich-Gehen-Lassen sich selbst immer mehr verliert. Den psychologischen Hintergrund dieses Phänomens nennt man die „Fähigkeit zur Selbstprägung“: Nicht nur die Umgebung prägt eine Persönlichkeit, auch der Mensch selbst hat die Freiheit, sich selbst zu verändern, an sich zu arbeiten. Das nennt man Charakterbildung.  
Die persönliche Bemühung mit dem Ziel, besser zu werden, führt dazu, dass der Geist freier wird und sich Höherem widmen kann: dem Schönen, dem Wahren, dem Guten. Oder er kann mehr und mehr versumpern, verrohen, verkommen. Dann ist ihm schon die kleinste Anstrengung zu mühsam und der leiseste Gedanke zu lästig. Dieses mühevolle An-Sich-Arbeiten nennt man Askese. Es kann im idealen Fall zur Mystik – zur Vereinigung mit Gott – führen.
Warum ist diese Mühe notwendig? Weil der Mensch aus Bauch, Kopf und Herz besteht. Fangen wir unten an, beim Bauch: Er steht bildhaft für Emotionen, Leidenschaften und Gefühle. Heute sagt man dazu gerne „Bedürfnisse“. Bei Sigmund Freud wäre das in etwa das „Es“. Bauchgefühle sind moralisch weder gut noch schlecht. Sie sind einfach eine physiologische Realität. Manche sind mehr, andere weniger praktisch für das menschliche Zusammenleben.
Das Prinzip des Bauches ist die Lustmaximierung und Unlustvermeidung. Das Hungergefühl und der Sexualtrieb sind genauso Bauchgefühle wie Hass, Abneigung und Angst oder auch die mütterlichen Instinkte bei der Frau und ritterliche Impulse – die Schwachen zu schützen – beim Mann.
Sie alle benötigen Kontrollinstanzen. Denn ohne diese Bremse würde die menschliche Entfaltung nicht möglich sein. „Die Leidenschaften sind an sich weder gut noch böse“, lesen wir im Katechismus, „sie sind sittlich gut, wenn sie zu einer guten Handlung beitragen und schlecht, wenn das Gegenteil der Fall ist.“ Bauchgefühle werden laut kirchlicher Lehre in dem Maß sittlich bestimmt, als sie der Vernunft (Kopf) und dem Willen (Herz) unterstehen.
Der Kopf steht für die Vernunft. Sein Koordinatensystem sind Logik und Nützlichkeit. Er versucht, die Wirklichkeit zu erklären, Probleme zu analysieren, Lösungen zu erarbeiten. Er erkundet, wie die Dinge wirklich sind. Der Kopf sollte – bei entsprechender Regulierung durch das Herz – das Begehren und die Bedürfnisse des Bauches vernünftig prüfen. Wie ein neutraler Beamter, der einen Antrag prüft. Je objektiver der Beamte, umso besser für den Staat. Der Beamte ist aber abhängig von seiner vorgesetzten Behörde – dem Herzen. Wenn diese höhere Instanz nicht integer ist, werden alle Anträge des Bauches am arbeitslosen Kopf vorbeigeschwindelt und ungefiltert durchgelassen – die guten wie die schlechten. Dann wäre der arme „kopflose“ Mensch hilflos seinen momentanen Launen, Emotionen und Leidenschaften ausgeliefert.  
Der arme kleine Beamte – der von der atheistischen Aufklärung maßlos überschätzt und sogar zur „Göttin Vernunft“ stilisierst wurde – kann aber sogar gezwungen werden, „Gefälligkeitsgutachten“ abzugeben: Die Vernunft konstruiert mehr oder weniger schlaue Gegenargumente, um sich nicht mit der Wahrheit beschäftigen zu müssen. Wir kennen das, wenn zum Beispiel Menschen mit subjektiver Gewissheit behaupten, das Baby im Leib der Mutter sei nur ein zufälliger Zellhaufen, den man nach Belieben „wegmachen“ könne. Da merkt man, dass ein Wille dahinter steht und die Erkenntnis verdunkelt, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Die oberste Instanz ist das Herz, die Entscheidungsmitte des Menschen, das Freiheitsorgan. Es beinhaltet den Willen und das Gewissen. Das Herz macht den Menschen aus, es muss zwischen Gut und Böse unterscheiden.
Das Herz gibt vor, was langfristig anzustreben ist. Der Kopf prüft daraufhin aufgrund seiner Logik und Vernunft, ob die Richtung, in die der Bauch  oder die Umwelt ziehen, das angestrebte Ziel erreichen lassen oder ob eine Korrektur notwendig ist. Das Herz ist der Ort der persönlichen Entscheidung, der großherzigen Selbstlosigkeit und des kleinherzigen Egoismus – und damit auch der Schuld. In der Bibel lesen wir, dass die Sünde im Herzen beginnt. Und dass das Herz andererseits der Ort ist, mit dem wir beten. Das Herz ist einerseits stark oder schwach – andererseits gut oder böse. Man kann etwa mit einem starken Willen das Böse wollen oder zum Beispiel mit schwachem Willen das Gute.
Und was ist jetzt Askese? Einer meiner Patienten, ein 45-jähriger Mann, ist zu mir gekommen wegen fehlender Askese: er hat sein Leben nicht (mehr) im Griff. Fernsehen ohne Ende, Essen nach Belieben, Internetporno, anonyme Sexualkontakte, in den Tag hinein schlafen  – und seine reiche Frau finanziert das alles. Aber glücklich ist er nicht. Er will nicht unbedingt das Böse, er will sich nur nicht anstrengen. So ist er in all das hineingeschlittert. Was für ein trauriges Leben! Er hat ein gutes, aber schwaches Herz, das dem Bauch nichts entgegenzusetzen hat.
Askese ist Herzens­training, eine schmerzhafte aber sinnvolle Übung, die dem Bauchprinzip „Lustmaximierung und Unlustvermeidung“ entgegengesetzt ist. Sie lässt das Herz freier von den Bedrängungen des Bauches werden. Es kann sich so besser für das Gute entscheiden. Denn richtig motivierte Askese ist kurzfristig unlustig, mittelfristig aber sinnvoll und langfristig gut.
Askese als Selbstdiszipinierung. Dazu gehört einerseits „positiv“ das beharrliche Ein­üben der angestrebten Tugend oder Fähigkeit, andererseits „negativ“ das Vermeiden von allem, was der Erreichung seines Ziels im Wege steht. Askese macht so den Menschen frei für das Große, für das er gemacht ist.
Zudem kann Askese zum Gebet werden, aus Liebe zu Gott – als Gebet der Sinne. Wie viele Menschen sind schon durch Fasten Gott näher gekommen! Die asketische Schulung beinhaltet auch die Disziplinierung des Denkens: die Abkehr von eingefahrenen Denkweisen der Umgebung, somit die mögliche Öffnung für die Realität. Der klarere Blick für das Geschehen.
Askese ist spezifisch menschlich. Tiere kennen so etwas wie Askese nicht, weil sie unfrei und ihren Instinkten ausgeliefert sind. Aber auch die Engel brauchen keine Askese, denn sie sind reine Geistwesen und haben daher keine Bauchgefühle. Zur Mystik kommt der Engel deswegen ohne Anstrengung, der Mensch (neben der Gnade) durch Askese. Der Katechismus sagt: „Es gibt keine Heiligkeit ohne Entsagung und Kampf. Der geistliche Fortschritt verlangt Askese, die stufenweise dazu führt, im Frieden und in der Freude der Seligpreisungen zu leben.“ Richtig verstandene Askese bringt also Frieden und Freude, sie ist keine sinnlose Selbstquälerei eines masochistischen Psychopathen.
Aber Askese darf kein Selbstzweck werden. Wird sie zur Selbstbefriedigung – dass man also anfängt, die eigene Macht über den Körper zu genießen – so wird es gefährlich. Es ist immer die Frage, wie Askese motiviert ist: ichhaft oder selbstlos. Auch Mädchen, die nichts mehr essen und in eine Magersucht schlittern, sind asketisch – aber aus falschen, krankhaften Motiven, die sie bis zur Selbstschädigung treiben. Daher hat die Kirche immer geraten, dass Askese im Gehorsam geschieht, damit ein vernünftiger Supervisor den Zweck der Übung im Auge behält und fanatischen Übereifer bremst.
Askese ist oft nützlich, aber deswegen nicht automatisch gut. Viele Religionen und Ideologien sind asketisch, weil man so viel mehr erreichen kann. Sogar die mörderischen SS-Schergen der Nazis waren „diszipliniert“. Denn Askese macht das Herz stärker, aber nicht notwendigerweise besser.
Askese ist nur ein Mittel zum Zweck für ein höheres Ziel – zum Zweck der Herzensstärkung. Je stärker das Herz, umso klarer kann es sich auf Gott ausrichten. Wenn ein starkes Herz regiert und das Gute will, so harmonieren mit der Zeit auch Kopfideen und Bauchgefühle mit ihm. Das ist dann der Zustand der Tugend: die Leichtigkeit im Tun des Guten. Je stärker das Herz, umso größer die Tugend. Askese ist der Weg dazu.

Der Autor ist Psychotherapeut, Facharzt für Psychiatrie und  Neurologie. Er lehrt an der Sigmund Freud Universitiy in Wien.


Veranstaltungshinweis

Im Wiener Palais Liechtenstein findet eine Fachtagung zum Thema Askese & Neurose statt. Es referieren:  
Michael Linden, Berlin:  Neurose – das Ende der Freiheit
Josef Weismayer, Wien: Askese – die Freiheit, Grenzen zu setzen
Peter Hofmann, Graz: Simplify your life – Askese als moderner „Lifestyle“
Jürgen Kriz, Osnabrück: Chaos vs. Zwangsneurose: Hilft Askese gegen die Angst?
Raphael M. Bonelli, Wien: Psychopathologie der Askese
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden: Wenn Askese zur Mystik wird
Zeit: 10. Mai 2014
Weitere Infos: www.askese.at



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