VISION 20004/2014
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Die Traurigkeit durch Liebe heilen

Artikel drucken In den alten Ländern Europas nehmen Pessimismus, Lebensüberdruss überhand: Was tun? (Von Urs Keusch)

In der Seelsorge begegnen uns immer mehr Menschen, die einem of­fen sagen, dass sie genug vom Leben haben und auch dass sie an einem ewigen Leben eigentlich gar nicht interessiert sind. Das ist dann wie ein Stich ins Herz…

Doch solcher Lebensüberdruss ist nicht neu, er kommt schon in der Bibel vor. Das Leben ist nun einmal keine Kutschenfahrt. Je länger die Wanderung dauert, umso beschwerlicher wird sie, auch der Rucksack drückt immer schwerer. Einer, der vom Leben auch genug hatte, war Tobit, ein frommer Israelit, der „aus Barmherzigkeit den Menschen viel geholfen“ hatte (Tob 1,3). Er war erblindet. Zu Hause gab’s auch Zank mit seiner Frau, die ihm vorwirft: „Wo ist denn der Lohn für deine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit? Jeder weiss, was sie dir eingebracht haben.“ (2,14) Schließlich wird für Tobit alles zu viel... Er will nicht mehr leben. Und er klagt seinem Gott: „Lass meinen Geist von mir scheiden; lass mich sterben und zu Staub werden. Es ist besser für mich, tot zu sein als zu leben...“ (3,6)
Das kann jedem Menschen passieren. Vor allem wenn Menschen alt, wenn sie müde sind, körperlich verbraucht, vielleicht sogar chronisch krank, wenn es in der Familie dauernd Unstimmigkeiten gibt. Dann braucht es oft nicht viel, und das Fass läuft über. Und solche Menschen – gerade bei der gesteigerten Lebenserwartung – gibt es heute viele.
Nun aber geschieht es häufig, dass sich Menschen diesem Lebensüberdruss, der Depressivität überlassen, dass sie von den Nebeln der Traurigkeit sich förmlich einlullen lassen. Dann wird für sie das Leben fast unerträglich. „Ach, mir ist’s verleidet... Wenn’s doch nur endlich vorbei wäre ... Mir reicht‘s, so hat das Leben doch keinen Sinn mehr...“
Ob es auf der anderen Seite noch einen Himmel gibt, das interessiert sie dann oft auch gar nicht mehr, obwohl solche Leute vielleicht ein Leben lang in die Kirche gegangen sind. Hier bewahrheitet sich ein Wort der hl. Hildegard: „Die Traurigkeit freut sich nicht mehr auf ihre himmlische Heimat“.
Das ist die große Gefahr für den Menschen, dass er in der Traurigkeit die Freude an Gott verliert, dass er die Hoffnung sinken lässt. Die hl. Hildegard hat diese Gefahr der Traurigkeit klar durchschaut, wenn sie weiter ausführt: „Auf diese Weise kommen in ihm (dem Traurigen) alle Lebenskräfte zum Verdorren, weil er nicht den geistlichen Lebenshauch in sich trägt ... Er gibt sich gänzlich der Trübsal hin und kriecht wie eine Unke in das Loch ihrer Mühseligkeiten, scheu vor allem, was ihr begegnen könnte. Unter solchem Verhalten aber ist sie eher tot als lebendig, weil sie nicht mehr aufschaut zu ihrer himmlischen Heimat, und weil sie auch kein Vertrauen setzt in diese Welt.“
Das sind wahre und sehr ernste Worte. Was ist der Mensch, wenn er – nach einem langen und oft auch mühsamen Leben – nicht mehr zur „himmlischen Heimat“ aufschauen kann, wenn keine Sehnsucht nach dem lieben Vater ihn innerlich mehr auferweckt, wenn er nur noch in ein dunkles Loch schauen kann?
Das gilt vor allem für alte und kranke Menschen, weil sie ja kaum mehr natürliche Reserven an Hoffnung haben, wie sie jungen Menschen noch als Morgengabe mitgegeben ist. Darum mahnte schon Kohelet (ca. 300 Jahre vor Christus): „Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: Ich mag sie nicht!“ (Koh 12,1)
 Was für die alten Menschen gilt, das trifft auch auf die alten Völker Europas zu, denen zusehends der natürliche schöpferische Lebenswille abhanden kommt, der in den jungen Völkern das Leben noch so übermächtig vorantreibt. Alte Völker sind müde, reizbar, sie verfallen dem Nihilismus und dem Lebensüberdruss, zerstören sich selber, was sich besonders auffällig in der Entartung der Kunst und der Mode offenbart, in der Ver­gnügungssucht, in der poltischen Reizbarkeit und endlich in der Feindseligkeit gegenüber dem Leben, auch dem Kinde gegenüber, das nur noch als Last empfunden wird. Diese Degenerationserscheinungen wirken sich dann auch auf das kirchliche Leben aus.
 Das hat bisher kaum jemand so hellsichtig durchschaut und zum Ausdruck gebracht wie unser Papst Franziskus. Sein ganzes apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, das man zur Lektüre und zur Selbstanalyse jedem Menschen gar nicht genug empfehlen kann, ist auf dem Hintergrund dieser europäischen Müdigkeit geschrieben. Noch nie hat ein Papst eine so deutliche, vom Geist der Wahrheit erleuchtete Diagnose gestellt – aber auch einen Ausweg, eine Rettung aufgezeigt! Diese Müdigkeit, diese Lebensunlust und dieser Pessimismus, diese Reizbarkeit und Nörgelei hat dann auch die christlichen Völker in einer Weise angegriffen, dass sie sich bis in die kleinsten kirchlichen Gruppen hinein auswirkt.
 Die hl. Hildegard, die ja auch Kirchenlehrerin ist, sagt dann von der Traurigkeit, dass sie viel mit dem Geist der Verneinung zu tun habe, mit dem Geist des Teufels: „Die Verführungskraft des Teufels windet sich oft gerade in die Melancholie (Traurigkeit, Depressivität) hinein und macht den Menschen trübsinnig und verzweifelt, so dass viele Menschen sich in der Verzweiflung ersticken und aufreiben.“
Das meint auch der Papst, wenn er sagt: „Auch die Gläubigen laufen nachweislich und fortwährend diese Gefahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen. Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüllten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt.“ (EG 2)
 Doch hier, genau an diesem Punkt, sagt die hl. Hildegard etwas ganz Unerhörtes. Sie stellt fest: „Viele aber wehren sich so heftig gegen dieses Übel (der Traurigkeit), dass sie wie Märtyrer aus diesem Kampfe hervorgehen.“ Was für ein ermutigendes Wort, was für eine Berufung!
Auch die Traurigkeit kann zum Segen werden, kann aus Armen, Müden, Kranken, Alten, Behinderten, Einsamen, Arbeitslosen... Heilige machen, Märtyrer, Apostel, wenn sie sich ganz entschieden vornehmen, gegen die Traurigkeit anzukämpfen, jeden Tag, jede Stunde – aus Liebe zu Gott! Ja, aus Liebe zu Gott!
Wer sich das zum Ziele setzt, wer diesen Kampf beharrlich führt in der Vereinigung mit dem Kampf und allen Leiden des Herrn, wer immer wieder aufblickt zum Kreuz, von wo uns alle himmlischen Kräfte zufließen, der wird ein „Märtyrer-Segen“ für die Welt: für die Kinder und Jugendlichen, die Eltern und Erzieher, die Kranken und Behinderten, die Bischöfe, Priester, für alle, für die ganze Welt! „Unsere unendliche Traurigkeit kann nur durch eine unendliche Liebe geheilt werden.“ (EG, 265)


Lass mich Deine Liebe spüren, Herr!
Strecke mir immer Deine Hand entgegen,
Herr, und führe mich bis zum Ende des Weges, wie Du willst.
Lass mich eine Freude sein für Dich, damit Du verherrlicht wirst.
Lass mich erlöst werden von dem Bösen um Deines Namens willen.
Bleibe weiter so freundlich und tröstlich bei mir, und lass mich spüren,
was Deine Liebe bewirkt. Amen. Halleluja.  
Ode Salomos, 14

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