VISION 20001/2019
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Die Kirche hat eine attraktive Botschaft

Artikel drucken Plädoyer für eine mutige Konfrontation mit dem Zeitgeist (Erzbischof Charles Chaput)

Die folgende Analyse der gesell­schaftlichen Lage der USA kann durchaus auf Europa über­tragen werden. Die Empfeh­lun­gen des Erz­bischofs von Phila­del­phia sind daher auch für uns Christen des alten Kontinents relevant:

Unser Land beruht auf Wandel, weil wir eine Nation von Einwanderern sind. Wandel ist normal. Er ist auch gesund, so lange eine Nation in Schlüsselbereichen mit ihrer Vergangenheit organisch verbunden bleibt. Die Identität der Nation geht in Brüche, wenn sie sich so rasch verändert, so tiefgreifend und in so vielfältiger Weise ändert, dass das kulturelle Gewebe zerfällt und nicht länger zusammenpasst. Wir sind als Gesellschaft nahe an diesem Punkt angelangt – wenn wir ihn nicht schon überschritten haben.
Ich werde im September 74. Im Laufe meines Erwachsenenlebens hat sich die gesamte Landschaft unserer Wirtschaft, der Kommunikation, der Rechtsphilosophie, der Wissenschaft und Technologie, der Demographie, des Glaubenslebens und der Sexualmoral geändert. Und nicht nur irgendwie verändert, sondern drastisch. In vieler Hinsicht ist unsere Welt in ihrer Art und Weise anders als in der Vergangenheit, nicht nur graduell. Selbst wenn wir es wollten, wir können das, was wir gelernt und erfahren haben, einfach nicht mehr „nicht wissen“. (…)
Um es auf den Punkt zu bringen: Das Land, in dem wir dachten, dass wir leben, ist nicht das Land, in dem wir jetzt tatsächlich leben. Der Verwaltungsstaat, den wir derzeit haben, hat wenig Ähnlichkeit mit der eingeschränkten Republik von 1789. Unsere Institutionen und die verwendete Sprache erscheinen gleich. Aber, was die Machtverhältnisse und die Vorgänge anbelangt, ist alles anders. Die meisten Amerikaner übersehen die Veränderung, weil Nostalgie und Ablenkung verhindern, über den Tellerrand unserer gegenwärtigen Realität hinauszublicken. Das sollte uns beunruhigen: Der Wohlfahrtsstaat, den wir so zu lieben scheinen, und der Überwachungsstaat, den wir scheinbar brauchen, überschneiden sich mehr und mehr.
Was hat aber der Glaube mit all dem zu tun?
Vor 200 Jahren schrieb Alexis de Tocqueville in Democracy in America, dass „klare Vorstellungen von Gott und von der Natur des Menschen für das tägliche Leben der Menschen unentbehrlich sind“. Als menschliche Wesen haben wir ein primäres Bedürfnis, uns nach jemandem oder etwas auszurichten, was unserem Leben Sinn gibt. Wir haben einen Instinkt, eine Form der Autorität zu sakralisieren.
Für Amerikas Gründergeneration war der Gott der Bibel diese Autorität – nicht irgendein Gott, sondern, worauf Tocqueville hinweist, der Gott von Moses und Jesus Christus. (…) Dabei ist festzuhalten, dass die Autorität Got­tes Garant der Freiheit des Menschen ist. Wenn der Glaube an Ihn als Quelle der Autorität geschwächt oder zerstört wird, werden wir nach einem anderen Herrn Ausschau halten. Das Leben verabscheut das Vakuum.
Wenn Gott von der Bühne abtritt, weitet der Staat unweigerlich seine Rolle aus, um diesen Platz einzunehmen. Ohne den Gott der Bibel landen wir in einer Art verdeckter Form von Götzendienst. Und meist steckt Politik dahinter.
Aus diesem Grund ist alles, was von innen her den Glauben der Gemeinschaft schwächt, so schädlich – nicht nur für die Kirche, sondern für die Kultur der wahren Freiheit. Es gibt keine neuen Paradigmen, keine neuen Prinzipien des Verstehens, keine Revolution des Denkens und keine sinnvollen Konkordate mit der Welt und in ihren Ausreden, die die Radikalität und die befreiende Schönheit des christlichen Menschenbildes auslöschen könnten.
Der Schlüssel zu diesem Menschenbild liegt in der Natur unserer Sexualität. Sie drückt sich aus in der Komplementarität von Mann und Frau, die auf neues Leben und gegenseitige Unterstützung ausgerichtet ist. Die menschliche Sexualität und die menschlichen Beziehungen haben eine gottgegebene Bestimmung. Diese ist Quelle wahrer Freiheit und Freude. (…)
Das ist die Wahrheit über das, was wir als leibliche Geschöpfe sind, egal, was unsere persönlichen Schwächen und Verwirrungen auch sein mögen. Zu unserem eigenen und zum Heil unserer ganzen Gesellschaft müssen wir diese Wahrheit bekräftigen, denn von ihr hängt das Wesen unseres Menschseins ab. Und während die nicht in Liebe und Geduld geäußerte Wahrheit eine Waffe darstellt, ist das Verschweigen eine Form von Diebstahl. Barmherzigkeit ohne Wahrheit ist keine Barmherzigkeit.
Vorige Woche, als ich diese Gedanken niederschrieb, bekam ich eine E-Mail von Charles Camosy, einem Theologen und Ethiker an der Fordham University. Ich zitiere nur einen kleinen Teil. Dr. Camosy schrieb:
„Wir stecken in einer zutiefst zerbrochenen und entfremdeten Kultur. Viele Leute, vor allem junge, halten verzweifelt Ausschau nach etwas, das ihnen Boden unter die Füße gibt und sie herausfordert. Nach einem Ort, den es zu entdecken gilt und der ihre wahre Identität ausdrückt. Wie soll die Kirche an ein kulturelles Zeitalter wie dieses herangehen? Mit Zuversicht, großer Offenheit. Jenseits der Götzen der säkularen Linken und Rechten findet eine politische Neuordnung statt, die uns neue Möglichkeiten eröffnet, treu zu unseren Traditionen und Lehren zu stehen. Viele junge Leute halten Ausschau nach genau dieser Art von praktiziertem, traditionellem, reichhaltigem Gut, das die Kirche zu bieten hat. Einem, das nicht den politischen Vorstellungen ihrer Großeltern verpflichtet ist. Sie wollen ihr Haus auf festem Grund bauen inmitten einer Kultur, die baden gegangen ist.
Wie in früheren Zeiten sollte sich die Kirche auf diese zerstückelte Realität vertrauensvoll einlassen, mit ihrer mächtigen, attraktiven Botschaft der Liebe, der Gewaltlosigkeit und mit besonderer Aufmerksamkeit für die Verwundbaren – aber mit dem Ziel, den kulturell Heimatlosen eine Heimat zu bieten.
Es gibt heute Leute, die uns zum Rückzug auffordern: zur kapitulieren, ja wir sollten einen massiven Paradigmenwechsel durchführen. Ihnen sage ich respektvoll: Ihr habt die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Statt das Tradierte zu verkürzen, statt nach Wegen Ausschau zu halten, wie unsere alte Lehre, die von Gott durch die Apostel und deren Nachfolger offenbarte Weisheit zu umgehen ist, ist jetzt eindeutig die Zeit, die uns aufruft, das Geschenk des überlieferten Glaubens begeistert anzunehmen und ihn demütig und liebevoll dieser Kultur anzubieten, die ihn so sehr braucht.“
Besser kann man es nicht sagen.

Auszug aus dem Vortrag des Erzbischof von Philadelphia/USA  an der Vilanova University „Things to Come: Faith, state and society in a new world“, gehalten am 22.2.18.

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