VISION 20006/1999
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Wie soll man an die Texte der Heiligen Schrift herangehen?

Artikel drucken (Alain Bandelier)

In der Bibel stehen oft wirklich schockierende Dinge. Sind solche Stellen ernstzunehmen, muß man sie umdeuten oder überlesen?

Die Bibel zu lesen, heißt, in die Lehre der Schrift zu gehen, um auf das Wort zu hören. Der wahre Jünger ist einer, der sich belehren läßt. Diese Empfänglichkeit ist das genaue Gegenteil der voraussetzungslosen Überprüfung oder der wilden Interpretation - aber auch der Auswahl zwischen Abschnitten, die zu lesen und solchen die zu meiden sind. Die richtige Haltung ist die Demut, vor allem bei schwierigen Abschnitten. Manchmal erlebt man, daß Leute mit Ablehnung, Ironisierung oder Überlegenheit reagieren. Das ist der sicherste Weg, sich der Erleuchtung zu verschließen.

Vom Lesen des Textes gelangt man zum Hören auf den Herrn, indem man sich sowohl von der Kirche ("Wer euch hört, hört mich") wie vom Heiligen Geist ("Er wird euch in alle Wahrheit einführen") leiten läßt. Ich lese die Schrift immer im Glauben der Kirche, mit dem Reichtum ihrer Tradition und dem Rückhalt ihres Lehramtes.

Ich werde also in die Lehre jener gehen, die vor mir diesen Abschnitt gelesen und meditiert haben; im konkreten Fall lese ich also die Anmerkungen in meiner Bibel und - bei schwierigen Abschnitten - einen Kommentar älteren oder jüngeren Datums. Ich werde auch in die Schule des Heiligen Geistes gehen, Ihn also um innere Erleuchtung bitten. Dieses Licht wird einem weitaus öfter zuteil, als man üblicherweise annimmt, vor allem wenn man das Wort, nachdem man es gelesen hat, ins Gebet nimmt.

... Man darf sich nicht wundern, in der Bibel auf die Leidenschaften der Menschen und die Unordnung in der Welt zu stoßen. Sie ist keine Erbauungsliteratur. Gott spricht zu den Menschen in der Sprache der Menschen. Die Heilsgeschichte ereignet sich in der Menschheitsgeschichte, die nur selten erbaulich ist. Achtung! Die Tugend ist nicht etwa die Voraussetzung der Gnade, sie ist deren Frucht.

Die Erfahrung der Christen zeigt uns, daß die Begegnung der Bekehrung vorausgeht und die Mystik der Moral. Nicht weil das Volk der Juden das Volk Gottes wird, ist es deswegen auch mit einem Schlag besser als die Nationen, unter denen es wohnt. Die Propheten werden nicht müde, es ihm in Erinnerung zu rufen.

Alain Bandelier

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