VISION 20006/1999
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Christen sind "Morgige"

Artikel drucken Taktieren hilft der Wahrheit nicht auf die Sprünge (Kardinal Joachim Meisner)

Für viele Zeitgenossen erscheint die Kirche als Einrichtung, die sich auf dem Rückzug befindet, ängstlich bemüht, ihren Besitzstand halbwegs zu wahren. Von Mission wird kaum mehr gesprochen. Und dabei gehört es zum Wesen der Kirche, missionarisch zu sein, so Kardinal Meisner vor den deutschen Bischöfen...

Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt" (Joh 15,9). Dieses so, dieses Maß der Liebe Gottes, ist das Maß der Mission in alle Welt, wie das Kreuz nach 0st und West zeigt und nach Nord und Süd. Wer sich von dieser Liebe Gottes berührt fühlt, kommt ebenfalls in eine solche maßlose Liebe zu den Menschen, und den treibt es zu den anderen. "Den anderen suchen" - unter diesem Imperativ vollzieht sich christliche Existenz.

Der Herr geht in unsere Welt ein, Er geht nicht in ihr auf. Und der Herr gibt darin nicht auf, sondern er hält durch. Er lebt aus Quellen, die dem Menschen unbekannt sind, nämlich aus der Liebe des Vaters. Darum erscheint er als unzeitgemäß, als un-zeitig, er erscheint als unmodern. Deshalb wird er den anderen verdächtig. Sie fühlen sich von ihm in Frage gestellt. Er paßt nicht in ihre Lebensmodelle. Darum wollen sie ihn beseitigen. Das Schicksal Christi ist das Schicksal des Christen.

Wir leben aus Quellen, von denen die anderen keine Ahnung haben. Wir richten uns aus nach Prinzipien, die den anderen unbekannt sind. Darum erscheinen wir ihnen fremd, andersartig und überholt. Es ist das Schicksal der Morgigen, daß sie den Heutigen fremd sind. Wir sind nicht Gestrige, wir sind Morgige.

Es gehört oft aller Mut dazu, diese Spannung durchzutragen, das Kreuz des Nonkonformismus, der Andersartigkeit in unserem Leben aufrecht zu halten. Wehe uns, wenn wir Angepaßte sind, denn dann würden wir unsere Schwestern und Brüder nicht mehr herausfordern, dann würde ihnen nicht mehr aufgehen, was Evangelium ist!

Es ist darum ein untheologisches Axiom, missionarische Betätigungsfelder unter allen Umständen - auch auf Kosten der Wahrheit - in der Öffentlichkeit zu behaupten. Auch diese Art von Selbstbehauptung führt in den Selbstverlust, denn mit faulen Kompromissen verliert die Botschaft des Evangeliums alle Glaubwürdigkeit.

Wir brauchen der Wahrheit nicht durch Taktieren auf die Sprünge zu helfen. Die Wahrheit Christi gilt immer und überall, für jeden und für jede Tat. Die Kirche muß dabei leidensbereit sein. Nicht durch institutionelle Stärke, sondern durch Zeugnis, Liebe und Leiden muß sie dem Evangelium den Raum bereiten und so der Gesellschaft helfen, ihre moralische Identität wieder zu finden.

Die frohe Botschaft heißt "Hingabe". Aus Liebe zu den Menschen haben wir das Ärgernis, anders zu sein und fremd zu erscheinen, durchzutragen und haben es nicht aufzulösen. Selig, die sich an uns nicht ärgern! Das Ergebnis dieser gekreuzigten Existenz heißt dann: "Wahrhaftig, das war Gottes Sohn" (Mt 27,54), wie es der römische Hauptmann unter dem Kreuz nach dem Tode Jesu ausgesprochen hat. Unsere Missionsmethode ist der Tod Christi, die Hingabe des Karfreitags.

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Unsere gegenwärtige Welt ist geprägt vom Tode Gottes, vom Atheismus. Es ist sogar eine "Gott-ist-tot"-Theologie entfaltet worden. Gott selbst ist am Karsamstag der Gott des Todes. Die Welt ist Karsamstag wirklich gott-los geworden. Er ist tot. Man bestattet ihn dort, wo wir unsere Toten ablegen. Er ist wirklich ein Mitgenosse des menschlichen Todes und der menschlichen Toten geworden. ...

Wir haben einen Gott im Abstieg, darum haben wir eine Kirche im Abstieg zu sein. "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht" (Joh 12,24). Der Gott des Abstiegs hat seine Kirche hier und heute mehr denn je in diese Bewegung mitgenommen. Das soll uns nicht ängstigen und erschrecken: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt, bleibt es allein."

Wir leben als Christen mit den anderen Menschen zusammen. 55 Prozent der Deutschen sollen laut Statistik mit dem christlichen Glauben nichts mehr anfangen können; wir arbeiten mit ihnen zusammen; wir liegen zusammen mit ihnen in Krankenhäusern; wir sind in den Ferien mit ihnen an den Erholungsorten zusammen. Ich glaube, wir kennen auch - wie sie - die Versuchung zum Atheismus. Unser Glaube ist eine Mischung von Licht und Finsternis. Und in der Finsternis sich zu erinnern, was wir einmal im Lichte schauen durften, heißt Glaube.

Und so wissen wir wohl auch aus der Erfahrung, was es heißt, keinen Horizont mehr über sich zu haben, weil Gott tot ist. Wir bekommen Anteil an der Verzweiflung derer, die nicht mehr um den Sinn ihres Lebens wissen. Wir bekommen Teil an der Hoffnungslosigkeit derer, die nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Wir geben nur den Menschen die Möglichkeit zum Glauben, mit denen wir unser Schicksal teilen.

Daß wir wie Christus in die Gräber der lebenden Menschen hinabsteigen, deren Gottesglaube erstorben ist, ist christliche Missionsmethode: Solidarität mit denen, die "in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes" (Lk 1,79). Darum ist uns nicht der Exodus, der Auszug in irgendein Land der Seligen erlaubt, das es gar nicht gibt. Uns ist die Solidarität mit denen aufgegeben, die Gott verloren haben.

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Dort, wo wir sagen: "Jetzt ist alles aus!", spricht Gott: "Jetzt geht's erst richtig los!" Was ist denn zu Ostern los? Gott ist los! Und seit Ostern gibt es keine gottlose Welt mehr, weil es keinen weltlosen Gott mehr gibt. Denn in seinem auferstandenen Sohn hat Gott die Welt an sein Herz gedrückt. Seit diesem Tag gibt es auch keine Gottlosen mehr, wenigstens von Gott her nicht, weil er in seinem Sohn Jesus Christus, dem Auferstandenen, die Menschen angenommen hat. Selbst wenn einer Gott losläßt, läßt Gott ihn noch lange nicht los. Zur Gottlosigkeit gehören immer zwei. Gott hält den anderen fest. Missionsarbeit heißt nicht, daß wir anderen den Gottesglauben einreden müßten, sondern wir brauchen nur die eine Hand des sogenannten Gottlosen zu ergreifen, dessen andere schon Gott hält, damit wir - Gott und du und ich - ihn aus dem Grabe seines Unglaubens herausziehen können.

Lassen Sie mich das noch einmal sagen: Dort, wo wir Menschen sprechen: "Jetzt ist alles aus!", sagt Gott: "Jetzt geht's erst richtig los!" Was ist denn los? Gott ist wirklich losgelassen! Das müßte uns mit größerem Schwung zur Mission erfüllen. Aus "müden Kriegern" müßten missionsbegeisterte Jünger Jesu werden.

Auszüge aus der Predigt anläßlich der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 22. September 1999

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