VISION 20006/1999
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Ich will auch mit niemandem tauschen

Artikel drucken trotz seiner Behinderung ganz besonders hilfsbereit (Alfred JablonskI, Alexa Gaspari)

Ich will auch mit keinem tauschen": Diese Überschrift hat meine Aufmerksamkeit erregt. Er stand über einem Artikel von Alfred Jablonski, und der war wirklich bemerkenswert. Gestern habe ich mich mit Fredi, wie er von seinen Freunden genannt wird, in einem Café getroffen. Da sein Foto in der Zeitung abgebildet war, habe ich ihn auch gleich erkannt.

Bevor wir unser Gespräch beginnen, vergewissert er sich, ob mit seiner Begleiterin, die in einem Rollstuhl sitzt, auch alles in Ordnung ist. Und dabei ist Fredi Jablonski selbst invalid. Wie er allerdings sein schweres Schicksal meistert, ist sicherlich beispielhaft.

Vor Kriegsende im Februar 1945 kommt er in Baden zur Welt. Es ist eine "Schwerstgeburt". Ein Virus, mit dem sich die Mutter in der Schwangerschaft angesteckt hatte, bewirkt, daß beim Neugeborenen gleich nach der Geburt eine Gehirnentzündung auftritt. Dauerhafte Schädigungen der motorischen Nervenbahnen des Gehirns machen sich in deren Gefolge bald bemerkbar: Eine spastische Lähmung und epileptische Anfälle sind Folgeerscheinungen. Anfangs hat er jede Stunde einen epileptischen Anfall, dann alle eineinhalb Stunden, später alle zwei Stunden. Die Abstände vergrößern sich mit der Zeit.

Eine Gaumensegellähmung ist die Ursache dafür, daß er im ersten Lebensjahr nicht schlucken kann. Medikamente zerstören zusätzlich die Speicheldrüsen, sodaß er ständig Wasser im Mund hat. Ein Leiden, mit dem er übrigens bis zum heutigen Tag zu kämpfen hat.

Bei den epileptischen Anfällen - die er seine ganze Jugend hindurch erleiden muß - verliert er nie das Bewußtsein. "Das war schrecklich," erinnert er sich noch heute. Auch die spastische Lähmung hat sein Leben von Anfang an geprägt: "Vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr war ich von der Hüfte abwärts gelähmt, ganz steif. Deshalb haben meine Eltern ein Wagerl anfertigen lassen, in dem ich bis zum zehnten Lebensjahr herumgeführt worden bin."

Dank einer besonderen Behandlung mit Naturhormonen kann er ab dem sechsten Lebensjahr ganz kurze Strecken gehen, längere Wege muß er nach wie vor im Wagerl zurücklegen. Die Behandlung ist aber leider sehr teuer, und die Eltern müssen sie bald wieder abbrechen. Eineinhalb Jahre hindurch kann er jedoch die Schule besuchen. Ein Autobus holt ihn ab. Als dies nicht mehr möglich ist, bekommt er zunächst von der Schule eine Hauslehrerin, später einen Hauslehrer von der Pfarre.

Diese Schilderung unterbricht mein Gegenüber mit einer besorgten Frage an seine Freundin: "Kommst Du eh zurecht?" Als diese bejaht, erzählt er beruhigt weiter.

Ein Leistenbruch, den er seit der Geburt hat, soll mit elf Jahren, im April 1956, operiert werden. Der kleine Fredi kommt in ein Wiener Kinderspital. Hätten die Eltern damals gewußt, was ihrem Sohn dort zustoßen würde, sie hätten die Operation wohl verschoben: Zwei Buben, die mit ihm im Zimmer untergebracht sind, machen sich einen Spaß daraus, den invaliden Fredi, der wahrscheinlich in ihnen Aggressionen weckt und sich nicht wehren kann, zu verprügeln. Er wird mit Faustschlägen und einer Schüssel, die schließlich auf seinem Kopf landet, traktiert.

Trotz einer hühnereigroßen blutgefüllten Beule, einer - allerdings nicht erkannten - Gehirnerschütterung und eines Nervenschocks wird Fredi am Tag darauf aus dem Spital entlassen. Die Folge der nicht behandelten Gehirnerschütterung und des übergangenen Nervenschocks: ein Zittern, das ihm bis heute erhalten geblieben ist.

Auch mit dem Lernen ist damals Schluß: "Wenn Sie ihren Sohn nicht in der Klapsmühle besuchen wollen, dann muß der Unterricht ein Ende haben. Er steht das nervlich nicht durch," erklärt der Arzt den schwer geprüften Eltern. Sechs Jahre prozessieren diese mit dem Spital der Gemeinde Wien, dann geben sie auf.

1962 endlich ein Lichtblick: Die epileptischen Anfälle hören auf. Für Jablonski ein Grund zur Freude: "Das war eine Wende in meinem Leben! Mein Zustand hat sich dann zum Guten gewendet. In den Jahren danach war es mir möglich, mich immer mehr auf meine Füße zu verlassen und längere Wege zu gehen. Das geht bis heute gut."

Alfred Jablonski bleibt jedoch arbeitsunfähig, muß sein Leben lang von der Sozialrente und dem Pflegegeld leben.

Wie sieht er sich heute selbst? In dem erwähnten Artikel beschreibt er sich folgendermaßen: "Ich habe einen komischen Gang. Aber es hätte leicht sein können, daß ich gar nicht gehen gelernt hätte. Es hätte sein können, daß ich ein trübsinniger Mensch werde. Aber ich bin, Gott sei Dank, kein trauriger Mensch. Nie gewesen. Trotzdem will keiner mit mir tauschen. Aber ich will auch mit keinem tauschen... Man kann nicht sagen, daß ich durch's Leben schreite, vielmehr wackle ich auf unsicheren Beinen dahin."

Seine wahrhaft sehr unsichere Gangart und sein Zittern haben zur Folge, daß sich Alfred Jablonski ständig schlimmen Vorurteilen seiner Mitmenschen ausgesetzt sieht: Unlängst will er ein Taxi besteigen. Als er die hintere Türe des ersten wartenden Autos aufmacht, einen guten Abend wünscht und sein Reiseziel angibt, "schaut mich der Taxler von oben bis unten an und sagt: ,Geh schleich' di', mach' die Tür zu! Geh zum Nächsten!"

Jablonski geht zum zweiten Taxi, macht die Türe auf: "Der Taxler war ein feinerer Herr, mit weißem Haar und Brille. Ich mach' die Tür auf und frage, ob ich mich setzen darf. Der Taxler fragt mich daraufhin, warum mich der vordere nicht mitgenommen hat. Ich zitiere den Vordermann, worauf der zweite meint: ,Hau die Tür zu, i' nehm' di' a net mit. Du bist ja stockbesoffen."

Nicht im empörten Ton - was verständlich gewesen wäre -, sondern lachend meint mein Gegenüber zu mir: "Manche glauben, durch die Art, wie ich bin, daß ich betrunken bin. Dabei darf ich ja gar nichts trinken.

,Nein, betrunken bin ich nicht,' habe ich dem Mann erklärt, ,ich darf ja gar nichts trinken, ich bin invalid.' ,Hast du überhaupt ein Geld?', fragt der Taxler, und wie du überhaupt ausschaust'."

Der zweite Taxler berät sich mit dem ersten und schließlich darf Jablonski gnadenhalber (!) doch mitfahren. Ähnliche Erfahrungen macht er immer wieder. Nicht selten verwehrt man ihm den Eintritt in ein Lokal, oft auch mit fadenscheinigen Ausreden wie: "Wir sperren gleich zu" und ähnlichem.

Kann ein Mensch das tägliche Ringen um das ganz normale Angenommenwerden, den ständigen Kampf gegen gedankenlose Vorurteile, aushalten, ohne zu verbittern oder Depressionen zu bekommen?, frage ich mich. Alfred Jablonski kann es.

Besonders bemerkenswert ist, daß er weder mit dem Schicksal und schon gar nicht mit Gott hadert: "Wieso sollte ich? Wenn ich ein anderes Leben bekommen hätte, wer weiß, was da alles passiert wäre." Und überhaupt: "In den Grenzen, die ich in meinem Leben zu meistern habe, liegt ein Reichtum."

Was kann ich da anderes tun, als ganz beschämt daneben sitzen... und mich an diesem Mann freuen, der das Leben trotz allem so positiv sieht und weder seinen Humor noch seine Lebensfreude verloren hat.

Eine große Hilfe ist ihm da sein selbstverständlicher Glaube. Er bedeutet für ihn weitaus mehr als nur ein Stück Papier, auf dem geschrieben steht, daß er getauft ist. Gottes- und Menschenliebe sind für mein Gegenüber ganz offensichtlich untrennbar verbunden. Sein Blick richtet sich weg von seinen eigenen Problemen und hin zu den anderen, die seiner Hilfe bedürfen.

Jablonskis Tag beginnt mit Gott und führt über seine Mitmenschen wieder zu Gott. Für ihn ist das ganz klar: "Mit Gott stehe ich auf, mit Gott nutze ich meine ganze Kraft, um anderen das Leben leichter zu machen." Und weiter: "Meine Wege führen immer zu den Menschen. Und über die Menschen zu Christus."

Auf diesem Weg zu den Menschen war die Krankenfraternität, die ein Treffpunkt für viele behinderten Menschen ist, und die Alfred Jablonski schon 1969 kennengelernt hat, sicher eine große Bereicherung. Hier helfen kranke und behinderte Menschen einander im Leben und im Glauben.

Zunächst hat es ihm geholfen, selbst ein wenig unabhängiger und selbständiger zu werden. Denn der Leitsatz der "Fraternität" lautet: "Steh auf und geh!" Außerdem hat mein Gesprächspartner in dieser Gemeinschaft Menschen kennengelernt, denen es noch schlechter geht als ihm und denen er gerne hilft, ihr Leben besser zu meistern."Meine Zeit schenke ich denen, die sie brauchen. Meistens sind es Leidensgenossen im Rollstuhl oder mit anderen Einschränkungen belastete Menschen, die ich verstehe, weil ich ein ganzes Leben mit meinen Grenzen gerungen habe. Jeder Tag ist ausgefüllt mit Wegen für meine behinderten Freunde. Ich mache für sie Besorgungen, chauffiere sie im Rollstuhl zum Arzt, oder einfach nur spazieren."

Einer seiner Freunde hatte noch nie den Stephansdom gesehen. Fredi verhalf ihm dazu. 20 Jahre hatte er einen Freund, der im dritten Stock gewohnt hat - lachend meint Jablonski, er glaube manchmal, daß alle Freunde, die er betreut, mindestens im dritten Stockwerk leben - und der nur im Bett liegen konnte. Bis zu seinem Tod habe er ihn begleitet.

Drei Stockwerke zu gehen, meine ich, sei verständlicherweise für ihn wirklich nicht leicht zu bewältigen gewesen. Da erfahre ich, daß er selbst seit seiner Kindheit mit den Eltern in einem Wohnhaus im fünften Wiener Gemeindebezirk, im dritten Stock gewohnt hat. Obwohl er schon mit 17 Jahren um eine ebenerdige Wohnung oder eine mit Lift angesucht hatte, konnte er erst 1982 übersiedeln. Also fast 17 Jahre später!

Zurück zu seinen Einsätzen für andere, die sein Leben ausfüllen. Lächelnd meint er: "Ich bin sehr viel unterwegs. Habe fast keine Zeit." Um seinen kranken Freunden besser und wirklich sinnvoll helfen zu können, hat er 1974 einen Erste-Hilfe-Kurs sowie einen Rollstuhlfahrkurs absolviert. (Wer schon einmal einen Rollstuhl geschoben hat, weiß, daß dies seine unerwarteten Tücken haben kann.)

Zu Hause betreut er auch noch seine 92jährige, schwerkranke Mutter, die selbst ihr Leben lang versucht hat, ihrem Sohn das Leben zu erleichtern. Nun ist er für sie da. Helga wiederum, eine Freundin, die an schweren Depressionen leidet, betreut er schon seit 23 Jahren. In seinem Artikel schreibt er dazu: "Mit ihr gehe ich in die Fußgängerzone einkaufen, oder ich bin einfach bei ihr, wenn sie wieder einmal sehr traurig ist. Helga erzähle ich in diesen Stunden von meinem Glauben, denn sie hat von ihren Eltern nie etwas von Gott gehört. ,Warum läßt Gott zu,' fragt sie dann immer wieder, ,daß ich so mit meinem Leiden gestraft werde?' und ,Wo ist Gott, wenn ich ihn brauche?' Ich erzähle ihr dann von meinem Leben und meinem Leiden, das für mich eine ,Prüfung' ist. Gott stellt durch das Leiden eine Frage an mich. In den Grenzen, die er mir auferlegt, sucht er mich. Durch die Not kommt mir Gott entgegen und erschüttert meinen Glauben. Ist es Gott, der meinen Glauben prüft, frage ich mich, oder bin ich es, der Gott auf die Probe stellt?"

So nebenbei erfahre ich noch, daß der vielgeprüfte Mann seit seiner Jugend an einem Lungenemphysem leidet, seine Wirbelsäule wie ein Fragezeichen aussieht und unlängst ein Taxler seine Hand übersehen hat, als er den Kofferraumdeckel zuschlug. Fazit: eine gerissene Sehne und ein Finger, der wahrscheinlich steif bleibt.

Doch ich habe wirklich den Eindruck, daß ihm das alles kein so großes Problem ist. Viel wichtiger ist ihm der Sonntagsbesuch in seiner alten Kirche im fünften Bezirk, den er in der Früh, wenn möglich, zu Fuß absolviert. Und jeden Sonntagabend fährt er in die Kirche der Caritas-Gemeinde in Meidling. Dort ist er besonders gern. Sein Lieblingslied ist: "Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte, die Du geschaffen..wie groß bist Du!"

Kein Wunder, daß Fredi Jablonski mit keinem tauschen möchte, wer ist schon so weise, gelassen und humorvoll wie er?

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