VISION 20001/2006
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Sokrates und Jesus: die Säulen Europas

Artikel drucken Gedanken über die Identität des Kontinents (Von Rocco Buttigione)

Was ist die europäische Identität? Wenn wir auf die Geschichte Europas schauen, sehen wir, daß diese Geschichte durch eine erste Entdeckung geprägt wurde. Ein Europäer wird dadurch bestimmt, daß er irgendwie den Namen von Sokrates gehört hat, oder die besondere Erfahrung von Sokrates miterlebt. Was ist die Erfahrung von Sokrates?

Durch Soktrates haben wir gelernt, uns die Frage nach der Wahrheit zu stellen. Jeder von uns will in der Wahrheit leben, jeder von uns stellt sich die Frage, ob das, was er tut, wahr ist oder falsch. Sind meine Freunde wahre Freunde oder falsche Freunde? Ist meine Liebe zu meiner Frau eine wahre Liebe oder eine falsche Liebe? Ist der Bezug zu meiner Arbeit ein wahrer oder ein falscher?

Und wenn man sich diese Frage stellt, wird man durch die Wahrheit gefangen genommen. Wir können nicht umhin, nach der anerkannten Wahrheit zu handeln. Sollte ich nicht nach der von mir anerkannten Wahrheit handeln, würde ich es sogar erleben, daß mein ganzes Leben verfälscht wird und daß ich als Mensch schlecht werde. Dies hat uns Platon gelehrt.

Wenn wir von europäischer Identität sprechen, glaube ich, sollten wir zu diesen ersten, ursprünglichen Wurzeln zurückgehen. Die Wurzeln sind das, was uns als Menschen prägt. Wir sind durch diese Erfahrung der Wahrheit geprägt worden, weil unsere Mütter und Väter es uns beigebracht haben, uns selbst nach der Wahrheit zu fragen und auf diese Frage Antwort zu geben.

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Ein zweiter Pfeiler der europäischen Identität, ist die Idee der menschlichen Zugehörigkeit. Sie haben wir von Christus. Ich möchte hier aus Johannes 15, die große Rede über die Weintrauben zitieren. Der Mensch ist so gemacht, daß er die Wahrheit über sich selbst nie erfahren kann, ohne Bezug auf andere Menschen. Wer sagt mir die Wahrheit über euch? Genügt es, daß ich über mich nachdenke, um die Wahrheit über mich zu entdecken? Nein! Die Wahrheit ist nicht eine Definition, sondern eine Erzählung.

Das entdecken wir, wenn wir uns verlieben. Was macht ein junger Mann, um einem Mädchen die Wahrheit über sich selbst zu sagen? Er erzählt ihr die eigene Geschichte und er spricht von den Menschen, die für ihn wichtig sind. Von seinen Freunden, von seiner Mutter, von seinem Vater. Und natürlich wird auch das Mädchen mit ihm reden, sie werden sich gegenseitig erzählen und jeder entdeckt die Wahrheit über sich selbst durch den anderen, durch die Worte des anderen.

Sigmund Freud hat es uns beigebracht. Er sagt, daß jeder von uns die eigene Persönlichkeit durch die Beziehung zu seiner Mutter und zu seinen Vater konstituiert, durch das Innewerden dieser zwei menschlichen Figuren in seinem Bewußtsein und in seinem Gewissen. Jeder von uns wird zum Menschen durch diese Beziehung. Der andere wird ein Teil von mir. Wir können zwar versuchen, die Bedeutung der Beziehung zu den Eltern zu reduzieren, aber dann werden wir zu Neurotikern, verlieren die Quelle zur menschlichen Kreativität, zur Schöpfungskraft.

Natürlich muß man sich mit den eigenen Eltern auseinandersetzen. Manchmal muß man mit ihnen streiten, das ist normal. Was nicht normal ist, ist der Versuch, ihre Bedeutung einzuschränken und sich ohne diesen Bezug zu seinen Eltern zu definieren.

Wenn wir das wissenschaftlich betrachten, können wir sagen, daß jede Gesellschaft eine Tradition braucht, eine Überlieferung. Jede Generation liefert der nachfolgenden die Werte, die für sie wichtig waren, die Werte, die sie in der eigenen Geschichte entdeckt hat und auf diese Weise wächst eine menschliche Kultur.

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Man stellt sich manchmal die Frage, warum in Europa heute so wenige Kinder geboren werden. Es gibt natürlich so viele Antworten auf diese Frage. Die Politiker haben ihre Verantwortung. Aber der erste Grund besteht nicht in der Politik, sondern eher in der Kultur. Verlieben sich die jungen Leute? Was sagt ihnen die Gesellschaft? Es lohnt sich nicht, es wird schief gehen. Wer mehr liebt, wird am Ende mehr leiden und bei der ersten Schwierigkeit sind die jungen Leute bereit, ihre Verbindung aufzulösen und allein zu bleiben.

So leben wir in einer Gesellschaft von vereinzelten Individuen, in der es keine Familien mehr gibt, nicht mal mehr Paare. Der Mensch bleibt alleine, weil er die Fähigkeit verloren hat, sich zu binden. Aber die größte Wahrheit, die wir vom Christentum gelernt haben, ist gerade, daß es besser ist mit einem anderen Menschen zu sein. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt, er ist leer und wird erst durch andere Menschen erfüllt. Und normalerweise ist dieser andere Mensch für einen Mann eine Frau und für eine Frau ein Mann, die Familie.

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Was sind heute die großen Herausforderungen unserer Zivilisation? Erstens die Kultur, die uns sagt, daß es sich nicht lohnt, ein Gewissen zu haben, daß der Mensch ein Wesen ohne Gewissen, nur ein vorläufiges Netz von Leidenschaften und Eindrücken ist, aber unfähig, von sich aus auf Dauer eine Verantwortung zu übernehmen.

Und die zweite große Gefahr? Daß wir die natürliche Bestimmung des Menschen, eine Gemeinschaft mit anderen Menschen zu schaffen, verneinen.

Unsere gemeinsame europäische Identität entsteht, wenn wir die Vision anerkennen: Ein Europäer ist ein Mensch, der Sokrates, ebenso wie Jesus verinnerlicht hat. Ein Mensch, der nichts über Christus und nichts über Sokrates wissen will, ist kein Europäer.

Wir sind Europäer, weil wir diese Geschichte haben. Gerade im Zeitalter, in welchem alle Ideologien zugrunde gegangen sind, sind wir auf unsere Geschichte angewiesen, um unsere Identität zu verstehen. Was finden wir dort? Das Griechentum und das Christentum. Ich war heute noch im Liechtenstein Museum und habe mir diese schönen Gemälde angeschaut. Und was sind die Themen in dieser Galerie? Geschichten der Heiligen und der griechischen Mythologie. Die Griechen und die Christen, das ist unsere gemeinsame, europäische Identität. Wenn Sie es mir erlauben, werde ich auch ein wenig die Römer hinzufügen. Ein bißchen Latinität hat auch dazu beigetragen, die beiden Seiten miteinander zu verbinden und in einen engeren Kontakt zu bringen. Das ist Europa, die europäische Identität, die keineswegs die Vielfalt ausschließt. Es gibt verschiedene Weisen, diese Identität auszulegen, verschiedene Interpretationen, aber das ist unsere Identität.

Auszug aus dem Peter Stolberg redigierten Vortrag gehalten vor dem “Alten Orden von St.Georg" im Haus der Industrie in Wien am 21.10.2005.

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