VISION 20003/2002
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Beten muss man lernen

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Beten muß man lernen, indem man diese Kunst immer aufs neue gleichsam von den Lippen des göttlichen Meisters selbst abliest. So haben es die ersten Jünger getan: “Herr, lehre uns beten!" (Lk 11,1). Im Gebet entwickelt sich jener Dialog mit Christus, der uns zu seinen engsten Vertrauten macht: “Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch" (Joh 15,4). Diese Wechselseitigkeit ist der eigentliche Kern, die Seele des christlichen Lebens und die Voraussetzung für jede echte Seelsorge.

Vom Heiligen Geist gewirkt, macht sie uns durch Christus und in Christus offen, damit wir das Antlitz des Vaters betrachten können. Das Erlernen dieser trinitarischen Logik des christlichen Gebets, indem man es vor allem in der Liturgie, Höhepunkt und Quelle des kirchlichen Lebens, aber auch in der persönlichen Erfahrung lebt, ist das Geheimnis eines wirklich lebendigen Christentums, das keinen Grund hat, sich vor der Zukunft zu fürchten, weil es unablässig zu den Quellen zurückkehrt und sich in ihnen erneuert.

Ist es nicht vielleicht ein “Zeichen der Zeit", daß man heute in der Welt trotz der weitreichenden Säkularisierungsprozesse ein verbreitetes Bedürfnis nach Spiritualität verzeichnet, das größtenteils eben in einem erneuerten Gebetsbedürfnis zum Ausdruck kommt? Auch die anderen Religionen, die nunmehr in den alten Christianisierungsgebieten weit verbreitet sind, bieten ihre eigenen Antworten auf dieses Bedürfnis an und tun dies manchmal mit gewinnenden Methoden.

Da uns die Gnade gegeben ist, an Christus zu glauben, den Offenbarer des Vaters und Retter der Welt, haben wir die Pflicht zu zeigen, in welche Tiefe die Beziehung zu ihm zu führen vermag.

Die große mystische Tradition der Kirche im Osten wie im Westen hat diesbezüglich viel zu sagen. Sie zeigt, wie das Gebet Fortschritte machen kann. Als wahrer und eigentlicher Dialog der Liebe kann er die menschliche Person ganz zum Besitz des göttlichen Geliebten machen, auf den Anstoß des Heiligen Geistes hin bewegt und als Kind Gottes dem Herzen des Vaters überlassen. Dann macht man die lebendige Erfahrung der Verheißung Christi: “Wer mich liebt, wird von meinem himmlischen Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren" (Joh 14,21).

Es handelt sich um einen Weg, der ganz von der Gnade gehalten ist und dennoch einen starken geistlichen Einsatz verlangt. Er kennt auch schmerzvolle Reinigungen (die “dunkle Nacht"), führt aber in verschiedenen möglichen Weisen zur unsagbaren Freude, die von den Mystikern als “bräutliche Vereinigung" erlebt wurde. ...

Ja, liebe Schwestern und Brüder, unsere christlichen Gemeinden müssen echte »Schulen« des Gebets werden, wo die Begegnung mit Christus nicht nur im Flehen um Hilfe Ausdruck findet, sondern auch in Danksagung, Lob, Anbetung, Betrachtung, Zuhören, Leidenschaft der Gefühle bis hin zu einer richtigen “Liebschaft" des Herzens.

Aus “Novo Millennio Ineunte".

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