VISION 20003/2004
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Therapie und Beichte nicht gegeneinander ausspielen

Artikel drucken Die psychische Erkrankung aus der Sicht des Arztes

Psychische Belastungen nehmen überhand. Aber was kennzeichnet diese Art des Leidens? Und: Wie geht man mit diesem um? Gespräch mit einem Psychiater, der diese Art der Erkrankung sowohl aus der Sicht der Wissenschaft wie aus der des Glaubens betrachtet.

Was behandelt der Psychiater eigentlich?

Raphael Bonelli: In der Psychiatrie behandeln wir viele Arten von psychischen Störungen, die ihre Ursachen allerdings nicht immer im psychischen Bereich haben. Die Hauptgruppen sind Depressionen und Schizophrenien. Beide können durch einen Gehirntumor oder Störungen bei den Botenstoffen des Gehirns hervorgerufen werden. Wie alle wissen, können Depressionen auch durch äußere Ursachen verursacht sein, etwa durch den Tod eines geliebten Menschen. Wir behandeln aber auch viele andere Störungen: neurotische, Sexual-, Persönlichkeits-, Eß- und Schlafstörungen.

Was ist in all diesen Fällen krank - die Seele?

Bonelli: Rund um dieses Thema gibt es eine große philosophische Diskussion. Das Konzept, das mir am besten gefällt: Es gibt die Seele, den Körper, die Psyche. Die Psyche vermittelt zwischen körperlichen und seelischen Zuständen. Sie ist sehr von der Seele, dem Willen etwa abhängig. Sie wird aber auch vom körperlichen Geschehen beeinflusst. Wer etwa schlecht geschlafen hat, dem geht es psychisch schlechter. Auch Veränderungen im Gehirn beeinflussen die Psyche. Ein Beispiel: Wird ein bestimmter Kern im Gehirn ausgeschaltet, so reagiert darauf fast jeder Mensch aggressiv. Stört man andere Zentren im Gehirn, so kommt es zur Enthemmung bei dem Betroffenen. In diesen Fällen dürfte zwar die Seele nicht angegriffen sein, wohl aber ist die Psyche verändert. Bei der Seele geht es um das Gut- oder Nicht-Gutsein. Was die Psyche anbelangt, geht es um Fragen wie: Geht es mir gut? Kann ich denken? Körper, Seele, Psyche - das ist für mich ein Dreiklang.

Sind psychische Leiden Erscheinungen, die mehr personenspezifisch sind, als etwa Erkrankungen des Magens oder der Leber eines Menschen?

Bonelli: Das trifft unbedingt zu. Die Psyche ist dem Menschen sehr nah - was nicht heißt, daß nicht auch die Leber sehr relevant ist. Leberstörungen können massive psychische Erscheinungen auslösen. Aber Probleme in der Psychiatrie sind dem Menschen stets sehr nah, sind oft dramatisch. Deswegen gibt es dem Psychiater gegenüber ein ganz anderes Verhalten als gegenüber jedem anderen Arzt. Oft kommt es dem Psychiater gegenüber zu massiven Ablehnungen, zu Mißtrauen - aber auch zu sehr vertrauensvollem Verhalten. In der Psychiatrie hören wir von unseren Patienten oft Probleme, die nicht einmal der Partner kennt.

Wohin wendet sich jemand, der psychisch leidet?

Bonelli: Prinzipiell werden psychisch Kranke vom Psychiater gesehen und dann bei entsprechender Indikation einem Psychotherapeuten zugewiesen. Diese müssen nicht unbedingt Ärzte sein. Sie haben eine bestimmte Ausbildung gemacht. Um einen Psychotherapeuten richtig einordnen zu können, ist es wichtig zu wissen, aus welchem Quellenberuf er kommt. Wenn jemand von Beruf Lehrer ist und dann als Zusatzqualifikation Psychotherapie gemacht hat, dann verfügt er über eine andere Kompetenz, als wenn er von Beruf Psychiater ist, der sich zusätzlich zum Psychotherapeuten ausbilden hat lassen.

Der Psychiater ist also die erste Anlaufstation für einen psychisch Kranken?

Bonelli: Richtig. Das ist auch wichtig. Es gibt nämlich in der Psychiatrie Störungen, die durch Psychotherapie allein nicht therapierbar sind. Manchmal werden sie durch eine solche Therapie sogar verschlimmert - und zwar in den Fällen, bei denen das Reden schadet. Das gilt etwa für eine akute Psychose, also für eine Schizophrenie. Das Gros der Fälle in der Psychotherapie sind allerdings Menschen, die leichter krank sind, die ein Lebensproblem haben, deren Probleme im neurotischen Bereich angesiedelt sind...

Was heißt neurotischer Bereich?

Bonelli: Das Konzept der Neurose wurde von jedem Lehrer der Psychiatrie anders definiert. Das geht soweit, daß man den Begriff der Neurose fast abgeschafft hat. Heute arbeitet zwar jeder mit dem Begriff Neurose, aber niemand sagt, was das ist.

Was verstehen Sie darunter?

Bonelli: Neurose ist salopp formuliert ein Knopf der Lebensauffassung. Jemand verarbeitet das, was er erlebt hat, schlecht. Er kreist immer wieder um dasselbe Problem. In solchen Fällen kommt es dazu, daß Menschen durchschnittliche Probleme höchst dramatisch interpretieren und nicht von ihnen loskommen. Ein Beispiel: Ein Mensch kommt nicht darüber hinweg, daß ihn der Vater nicht gut behandelt hat, ohne zu bedenken, daß alle Eltern Fehler machen. Ein halbwegs normal gebauter Mensch würde sagen: Ja, mein Vater hat in dieser und jener Situation nicht richtig gehandelt - aber wer macht keine Fehler? Der Neurotiker hingegen sagt: Damals hat mir mein Vater gesagt, ich sei böse, und deswegen geht es mir jetzt schlecht...

Wäre das ein Erscheinungsbild, das nicht unbedingt ein Arzt behandeln muß?

Bonelli: Nein, das könnte unter Umständen auch jemand anderer, aber meistens ist die Kombination mit einem Arzt notwendig. Denn bei den meisten Störungen wird auch eine medikamentöse Behandlung notwendig sein. Ausnahmen sind vielleicht Partnerschafts- und Eheprobleme. Auf diesem Gebiet können Mediatoren, Lebensberater, die gar keine psychotherapeutische Ausbildung im engeren Sinn haben, gut wirken. Bei Eheproblemen ist es wichtig, daß ein objektiver Dritter hinzugezogen wird, der schlichtet.

Wann sollte jemand zum Psychiater gehen? Welche Symptome sind ausreichend? Wann kommt man nicht mehr selbst zurecht? Gibt es da überhaupt Kriterien?

Bonelli: Zunächst wäre zu sagen, daß einige Patienten, die dringend zum Psychiater gehen müßten, mit Sicherheit nie gehen würden - jedenfalls nicht freiwillig -, weil sie das ablehnen. Sie sagen, ihnen fehle nichts. Da leidet hauptsächlich die Umwelt. Die Indikation für den Besuch des Psychiaters ist der Leidensdruck - entweder des Betroffenen selber oder seiner Umgebung. Es gibt Krankheiten, bei denen sich der Betroffene wohlfühlt, alle anderen rundherum aber leiden.

Können Sie da ein Beispiel nennen?

Bonelli: Ja, etwa die Manie. Das ist eine Antriebssteigerung, bei der sich der Patient großartig fühlt, sich aber in fürchterliche Abenteuer wagt oder auf jede sexuelle Beziehung einläßt, in vielfältiger Weise vollkommen enthemmt ist. Erst wenn die Manie zu Ende ist, merkt er, was er alles angestellt hat.

Kann der Psychotherapeut wirklich heilen oder schafft er es vor allem, Symptome erträglich zu gestalten?

Bonelli: In der Psychotherapie passiert es sehr selten, daß die Menschen nie wieder Probleme haben. Was man in der Therapie versucht, ist, diesen “Knopf der Lebensaufassung" zu lösen. Wie gut das gelingt, hängt davon ab, wie lange das Problem schon besteht. Wer sich ein Leben lang benachteiligt gefühlt hat und unzufrieden war, den kann man nicht plötzlich zu einem frohen, euphorischen Menschen machen. Hingegen kann es in der Psychotherapie eines plötzlichen Partnerverlustes sehr rasch gelingen, den Patienten zu stabilisieren. Allerdings könnte derselbe Erfolg durch ein Gespräch mit einem guten Freund erreicht werden. Meistens jedenfalls ist es so, daß der Therapeut die Symptome erträglich macht.

Stellt sich bei Christen nicht die Frage, ob sie mit ihren Problemen nicht lieber zum Priester als zum Psychotherapeuten gehen sollten?

Bonelli: Das kommt darauf an. Ein Psychotherapeut kann nicht Schuld erlassen. Die Psychotherapie ersetzt nicht die Beichte. Es gibt aber viele Zustände, bei denen eine Beichte nicht ausreichend hilft. Ihre Wirkung liegt nicht im psychischen Bereich. Daher ist es oft notwendig, daß auch gläubige Christen den Psychiater aufsuchen.

Bei welcher Konstellation sollte ein Priester im Beichtstuhl jemanden einladen, zusätzlich eine Therapie in Anspruch zu nehmen?

Bonelli: Relativ häufig wird das im Falle von Depressionen vorkommen. Depression wird von gläubigen Menschen oft als Trockenheit im Gebet oder als Prüfung interpretiert. Man glaubt dann, man sei in der dunklen Nacht, von der Johannes vom Kreuz spricht - und da müsse man eben durchhalten. Dann kommt es zu verbissenen Willensanstrengungen aus Angst vor dem Psychiater, von dem man meint, er werde dann in der Seele herummanipulieren und den Glauben gefährden. Nach meiner Beobachtung tun sich religiöse Menschen vor allem auf diesem großen Gebiet der Depressionen besonders schwer, sich helfen zu lassen. Sie haben das Mißverständnis, daß ihre Traurigkeit ihre eigene Schuld sei - was durchaus auch der Fall sein kann, aber nicht sein muß.

Die Psychiatrie hat eben bei vielen ein schlechtes Image. Irgendwie hat man Angst vor dem Psychiater. Ist das nicht zum Teil auch berechtigt?

Bonelli: Die Angst ist teilweise berechtigt, teilweise anachronistisch.

Inwiefern berechtigt?

Bonelli: Insofern es viele Therapeuten gibt, die dem christlichen Menschenbild deutlich widersprechen und Ratschläge geben, die das religiöse Leben sehr verletzen können. Denn wenn wir unsere Psyche öffnen, öffnen wir uns ganz. Beim Psychiater, beim Psychotherapeuten sind wir extrem verletzlich. Wenn dieser salopp über unseren Glauben herzieht, kann das sehr verletzen und den Glauben gefährden. Insofern ist die Skepsis berechtigt.

Was aber ist dann anachronistisch?

Bonelli: Die Angst vor Psychopharmaka. Sehr viele Krankheiten kommen aus einer Störung des Stoffwechsels im Gehirn, wie erwähnt die Depression und die Schizophrenie. Da ist das Einnehmen von Psychopharmaka moralisch absolut unbedenklich. Ideologisch gehen Christen da oft eine Koalition mit der Grünbewegung ein, wo es heißt, nur Natur sei gesund - ein unberechtigtes Vorurteil. Man muß nur beobachten, wie schnell viele Depressionen verschwinden und wie gut sich eine Schizophrenie bessern kann, wenn man die Medikamente regelmäßig einnimmt! Mir fällt jedenfalls auf, daß es in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen gibt.

Gibt es andere Phänomene, die beim Beichten erkannt werden, dort aber nicht restlos gelöst werden können?

Bonelli: Ja, der religiöse Wahn und die falschen mystischen Erfahrungen. Da geht es um Menschen, die meinen, Eingebungen von Heiligen oder Engeln zu haben, was sich bei näherer Beschäftigung als Krankheit herausstellen kann.

Müßte nicht der Priester in diesem Fall die Unterscheidung treffen und erst, wenn er zum Ergebnis kommt, daß es keine echten Erscheinungen sind, den Psychiater einschalten?

Bonelli: In der Praxis machen wir das oft zusammen. Vorausgesetzt der Betroffene ist einverstanden, überlegen Priester und Arzt, wie das Geschehen zu bewerten ist. Ich habe einen Fall vor Augen, in dem ein tiefreligiöser Mensch von solchen Erfahrungen berichtet hat. Der Beichtvater hatte diesbezüglich Zweifel und hat die betreffende Person zu mir geschickt. Wir haben dann sehr gut zusammengespielt. Und zu guter Letzt wurde der Patient auf ein Medikament eingestellt und die Krankheitssymptome sind verschwunden.

Was sollte ein Christ prüfen, bevor er sich einem Therapeuten anvertraut?

Bonelli: Das Menschenbild des Psychiaters. Zwar wird sehr oft von wertfreier Therapie gesprochen, aber das ist eine Illusion. Ich habe sehr oft beobachtet, daß das eigene Menschenbild bei sogenannten wertfreien Psychotherapeuten sehr massiv zum Tragen kommt, wenn sie meinen, jemand habe zu enge religiöse Bindungen. Ich würde keinem religiösen Menschen raten, zu einem nicht religiösen Psychotherapeuten zu gehen.

Haben Sie Patienten schon die Krankensalbung empfohlen?

Bonelli: Ich arbeite hier eng mit der Krankenhausseelsorge zusammen. Der Kaplan im Haus spendet immer wieder psychisch kranken Patienten die Krankensalbung. Das wird sehr dankbar angenommen. Eine Heilung habe ich bisher noch nicht erlebt. Aber es ist sicher sehr hilfreich. Ich ziehe bei Therapien von religiösen Menschen oft einen Priester hinzu, der eine Beichte abnimmt, die Krankensalbung spendet, zusätzliche Gespräche führt und spezifische Fragen der Schuld klärt.

Sie haben bei einem Vortrag von Psychologisierung der Schuld in der Psychotherapie gesprochen. Was meinten Sie damit?

Bonelli: Leider ist es sehr oft so, daß die Psychotherapie Schuld nicht als Schuld akzeptiert. Soziale Verstrickungen, Unfähigkeit werden als Auslöser für Verhalten angesehen. In manchen Fällen mag es übrigens hilfreich sein, diese Aspekte zu sehen. Wer aber verabsolutiert, daß es keine Schuld mehr gibt und alles nur mit Umständen erklärt, der schafft die Verantwortung ab. Damit fühlen sich die Patienten aber gar nicht so wohl. Wer nur Opfer der Umstände ist, kann nichts an seiner Situation ändern.

Sie kritisierten weiters, daß der Stellenwert der Sexualität falsch gesehen wird.

Bonelli: Viele haben die Sichtweise von Sigmund Freud übernommen: Wenn man die Sexualität nicht ungehemmt auslebt, komme sie anderswo, etwa durch eine Neurose, sexuelle Störungen oder sonstige Probleme durch. Das ist ein großes Mißverständnis, das in der Praxis zu dramatischen Ratschlägen führen kann, nämlich man müsse alles ausleben. Aus meiner Sicht ist das ein großer Irrtum, moralisch bedenklich. Es tut den Menschen nicht gut. Man kann nämlich die Sexualität exponentiell steigern, wenn man sie stimuliert. Man kann sie aber auch beherrschen. Sie ist prinzipiell verzichtbar und hat einen anderen Stellenwert als der Nahrungstrieb.

Sie warnten vor der Überbewertung der Gefühle, die heute vorherrscht. Könnten Sie diesen Punkt etwas erläutern?

Bonelli: Dieser Aspekt der Psychotherapie erscheint mir besonders wichtig. Wo nur das Gefühl zählt, gibt es keine objektiven Werte mehr, keine festen Bindungen. Heute richtet man sich in der Psychotherapie vielfach nur mehr nach der Beantwortung der Frage: Wie geht es mir damit? Was spüre ich? Wenn man das lange genug praktiziert, glaubt man an seine Gefühle, wie andere an Gott glauben. Das kann dramatische Konsequenzen haben. Dann spürt eine Frau keine Liebe mehr für ihren Mann, aber Zuneigung für einen anderen und zieht zu diesem. Für uns Christen ist das offenkundig ein Irrweg, denn wir wissen: Die Treue stabilisiert die Ehe und die Liebe kann auf dieser Grundlage bald wieder wachsen. Sind die Gefühle aber alles, dann ist die Trennung programmiert. Was aber, wenn zwei Jahre später das Gefühl sich wieder ändert?

Raphael Bonelli ist Assistent an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Graz. Mit ihm sprach CG.

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