VISION 20003/2004
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Kinder als Geschenk sehen

Artikel drucken Kinderfreundlichkeit als Chance für eine Erneuerung von Kirche und Gesellschaft (Von Christof Gaspari)

In den letzten Jahren hat es sich herumgesprochen: Europa vergreist. Der Anteil der Alten steigt, die Zahl der Kinder nimmt rapid ab. Läßt sich dieser Trend überhaupt noch umkehren?

Mittlerweile ist das Thema in die Schlagzeilen geraten: Wer wird in zehn Jahren die Pensionen zahlen? Wenn das so weitergeht, so die Sorge, bricht das System der sozialen Sicherheit zusammen. Überlegungen über den Import von Arbeitskräften werden angestellt, um zu retten, was zu retten ist. Dabei zeichnet sich diese Entwicklung lange schon ab. In Österreich - wie auch im übrigen Europa - sind die Geburtenziffern seit Mitte der sechziger Jahre gefallen: von 112.301 im Jahr 1970 auf 75.898 im Vorjahr, ein Rückgang um ein Drittel.

Seit mehr als 25 Jahren reichen die Geburten nicht aus, um den Fortbestand der Bevölkerung zu sichern. Die Spirale der Abwärtsbewegung dreht sich immer rascher, denn die Effekte summieren sich: die Bereitschaft, Kinder zu bekommen, sinkt, die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter nimmt ab, und wenn Kinder zur Welt kommen, dann erst relativ spät im Leben der Eltern, sodaß sich der Abstand zwischen den Generationen vergrößert.

Das Ergebnis heute: Jede Generation wird nur mehr zu zwei Dritteln ersetzt. In Südeuropa sieht es noch schlimmer aus. Sollte sich nichts an den Trends ändern, so rechnen die Demographen mit einem Rückgang der Bevölkerung in den bisherigen EU-Mitgliedsstaaten von derzeit 375 auf 55 bis 144 Millionen bis zum Ende des Jahrhunderts.

Da die Folgen unübersehbar sind, erklingt der Ruf nach Änderung - sonst können wir unseren Lebensstandard nicht halten, sonst müssen wir die Pensionen drastisch kürzen, sonst können wir uns die vielen Alten nicht mehr leisten, sonst sterben die Europäer aus, sonst werden wir von Muslimen und Afrikanern überschwemmt...

Österreichs Bildungsministerin Elisabeth Gehrer brachte vorigen Sommer die Anregung an die Jugend ein: “Weniger Party und mehr Kinder." In den Medien gab es einen Aufschrei. Erinnern sie sich noch? Man wolle die Frauen wieder auf Haushalt und Kinder beschränken, die Errungenschaften der Frauenbewegung zunichte machen. Offenbar könnten sich Ewiggestrige auch im 21. Jahrhundert nicht von der Idylle vom Heimchen am Herd trennen, ätzten die Medien.

Was aber sollte geschehen, damit vielleicht doch wieder die Geburtenzahlen in die Höhe gehen? Die heute gängige Antwort ist klar und duldet keine Widerrede: Mehr Kinderbetreuungsplätze - in den Betrieben, den Dörfern, den öffentlichen Dienststellen. Und diese müßte man den Bedürfnissen der Arbeitswelt anpassen: längere Öffnungszeiten (es wird ja heute vielfach bis 19 Uhr und samstags Nachmittag gearbeitet), durchgehender Betrieb auch im Sommer und erschwingliche Preise. Kinder dürften weiblicher Berufstätigkeit und Karriere nicht im Wege stehen. Beides lasse sich vereinbaren. Erfahrungen im Ausland bewiesen das zur Genüge.

Offengestanden: Ich habe so meine Zweifel. Ein Blick auf die Geburtenstatistik zeigt mir, daß dieses Rezept bisher jedenfalls in keinem europäischen Land die Geburtenfreudigkeit auf ein Niveau anzuheben vermochte, das reicht, um ein weiteres Schrumpfen der Bevölkerung zu verhindern. Die meisten Länder liegen, deutlich unter einem solchen Wert. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn für jedes Kind, das abgestillt worden ist, ein kostenloser Betreuungsplatz bereitstehen und Nachmittags- sowie Ferienhorte für Schulkinder zur Norm werden sollten.

Warum ich diese für heutige Verhältnisse häretische Meinung vertrete? Weil die Kinderlosigkeit heute nicht primär ein Problem der Organisation von Betreuung ist, sondern eines der Werthaltung. Und sie ist überwiegend kinderfeindlich, obwohl Befragungen immer wieder ergeben, daß sich junge Menschen auch heute noch Kinder wünschen. Diese gesunde Grundeinstellung ist ja, Gott sei Dank, nicht ganz verloren gegangen. Sie kommt den meisten nur im Zuge des Hineinwachsens in das Erwachsenenleben abhanden.

Warum aber? Weil Kinder tatsächlich schlecht in unsere Welt passen, die das Glück im Erotik-Taumel, im Shopping-Center, am Arbeitsplatz, in der Disco, vor dem Fernsehgerät und im Internet verheißt. Wer nun ja zum Kind sagt, tut dies im Bewußtsein, auf einige der Verheißungen verzichten zu müssen.

Und noch etwas: Im Zeitalter der Empfängnisverhütung bedarf es einer Entscheidung zum Kind. Bewußt oder unbewußt wird abgewogen: Können wir uns ein Kind, bzw. noch eines leisten - wollen wir überhaupt eines? Ist jetzt der richtige Zeitpunkt? Worauf müssen wir dann verzichten?

Diese Entscheidungsmöglichkeit - als Akt des Fortschritts zu größerer Mündigkeit gedacht - erweist sich als Überforderung. Wer kann denn ein so weit in die Zukunft wirkendes Geschehen, wie sie die Zeugung eines Kindes darstellt, vernünftigerweise durch Abwägen entscheiden wollen? Wer es dennoch tut, bringt unbewußt zum Ausdruck: Kinder müssen in mein Leben, in die Erwachsenenwelt passen. So lange wir aus dieser Sichtweise nicht herauskommen, werden wir mit sinkenden Geburtenziffern konfrontiert sein.

Was wir heute brauchen, ist ein tiefgreifender Wandel hin zu einer wirklich kinderfreundlichen Gesellschaft. Die das Kind nicht primär als Last, als Spaßverderber, als Kostenfaktor oder - umgekehrt - als Luxusgut für späte Lebensjahre ansieht.

Es geht darum, das Kind als Geschenk, als Chance für die eigene persönliche Entwicklung zu entdecken. Welche größere Aufgabe gibt es denn, als die, einem anderen das Tor zu einem erfüllten Leben zu öffnen? Was bleibt denn sonst von jemandem am Ende seines Lebens im Gedächtnis der Umwelt? Die Stunden, die einer vor dem Computer, im Shopping-Center oder auf dem Tennisplatz verbracht hat?

Die Summe unseres Lebens seien die Stunden, die wir lieben, hat Wilhelm Busch gereimt. Wie treffend! Und wie sehr fordern uns unsere Kinder heraus, solche Stunden anzusammeln - vorausgesetzt wir lassen uns auf sie, auf ihre Bedürfnisse ein.

Eine kinderfreundliche Welt organisiert das Zusammenleben so, daß die Kinder sich entfalten können, daß sie eine Chance bekommen, zu Persönlichkeiten heranzuwachsen. Das ist es auch, was mir an Michaela Heeremans Buch Zur Freiheit erziehen (siehe Kasten) so gut gefallen hat: daß sie gegen den Zeitgeist die Forderung aufstellt, besonders in den ersten Lebensjahren der Kinder, das Leben so zu organisieren, daß es dem Liebesbedürfnis der Kinder gerecht wird.

Das bedeutet nicht, in allem nachzugeben, blind für die Herausforderungen des gesellschaftlichen Umfeldes zu werden und sich von ihm abzukapseln. Keineswegs. Es trägt den unaufschiebbaren Bedürfnissen des schwächsten Gliedes der Familie nach Geborgenheit, Stabilität, nach Anregung, nach Ermutigung, nach Grenzziehung, kurz nach persönlicher Förderung durch eine liebevolle, zuverlässige Person Rechnung.

Wer sich auf dieses Abenteuer einläßt, erfährt eine enorme Bereicherung seines Lebens. Er wird geliebt, gebraucht, verehrt, bewundert. Er erlebt Unbeschwertheit, Vertrauen, Offenheit, Lebensbejahung... All das bringen die Kinder mit größter Selbstverständlichkeit ins Leben ihrer Umgebung ein, alles Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft Mangelware sind.

Zugegeben: Es ist kein einfaches Programm. Es ist mit Verzicht verbunden. Wenn man viele Kinder hat, sogar mit viel Verzicht. Mütter - denn es sind weiterhin die Mütter, die für diese Aufgabe prädestiniert bleiben -, die sich auf dieses Abenteuer einlassen, werden oft bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gefordert sein. Aber weil sie in ihrer Liebesfähigkeit so gefordert werden, haben sie die einmalige Chance zu echten Persönlichkeiten heranzuwachsen. Ich schreibe das nicht einfach nur locker her, wenn ich es nicht an vielen Frauen beobachten hätte, vor allem auch an meiner eigenen Frau.

Welche Freude und welche Bereicherung das Zusammensein mit Kindern bedeutet, ist uns, meiner Frau und mir, zuletzt wieder besonders bewußt geworden, als wir mit einer Gruppe von 38 Kindern, vom Säugling bis zum Teenager, und 23 Erwachsenen vor Ostern in Medjugorje waren. Da wurde viel gespielt und gelacht, es gab auch viel Lärm und manche Unstimmigkeit, aber insgesamt ein Klima der Lebensfreude und des Miteinander unter diesen für unsere Zeit so untypischen Großfamilien.

Und noch etwas war greifbar: der Friede, die Freude und die Verbundenheit, die vom gemeinsam gelebten Glauben ausgingen. Erstaunlich ernsthaft und intensiv bei der Sache waren die Kinder bei unseren Gebetswanderungen auf dem unwegsamen Gelände von Kreuz- und Erscheinungsberg. Und überraschend groß war der Andrang, als P. Achim die Kinder zur Beichte eingeladen hat.

Und damit ist auch schon der Weg gekennzeichnet, auf dem sowohl die Kirche wie unsere Gesellschaft aus der Lebensmüdigkeit und Überalterung herausfinden wird: Er geht über die Erneuerung der christlichen Familien. Wo Menschen Gott und Seiner Vorsehung vertrauen, können sie auf die Illusion von der Lebensplanung verzichten und jene Kinder liebevoll annehmen, die Er ihnen schickt - und darin nicht nur eine mühevolle Aufgabe sehen (die es auch ist), sondern vor allem eine hervorragende Gelegenheit viel Liebe zu empfangen und zu schenken.

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