VISION 20003/2004
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Müssen denn alle Verletzungen geheilt werden?

Artikel drucken Nicht alle Nöte überfordern, manche können heilsam sein

Technische Errungenschaften, der Fortschritt in der Medizin und die Versprechungen vieler Gurus nähren die Erwartung, es gäbe für jedes Leiden ein Heilmittel. Mit dieser Sichtweise setzt sich im folgenden ein Arzt und Diakon auseinander.

Heute ist oft von der “Heilung von Verletzungen" die Rede. Kann man Verletzungen überhaupt entgehen?

Philippe Madre: Nein, wir sind alle mehr oder weniger angekratzt. Ich frage mich mittlerweile aber: Müssen alle unsere Verletzungen heilen? Das wichtigste ist doch, sich ihrer irgendwann einmal bewußt zu werden. Muß man denn wirklich jede Last abwerfen? Bei einigen Menschen ist sie sicher zu schwer. Schlimme Verwundungen führen zu Niedergeschlagenheit, in eine Art inneres Grab - und zu massiven Abwehrreaktionen. Aber in anderen Fällen bin ich mir weniger sicher... Handelt es sich da nicht vielleicht eher um den “Stachel im Fleisch" des heiligen Paulus? Vielleicht auch um einen “Punkt des Stolzes", von dem ein alter Mönch auf dem Berg Athos gesprochen hat: ein Punkt in meinem Leben, an dem ich fraglos verletzt wurde, aber wo ich mich im Gefolge auch verhärtet habe? Aus spiritueller Sicht könnte man sagen: Wenn ich mit ihm zu leben vermag, ihn als Aufruf zur Demut und zum Vertrauen in Gott ansehe, dann kann dieses Leiden zu einem Weg der Heiligkeit werden.

Heute werden so viele Heilswege angeboten. Was halten Sie davon?

Madre: Alles, was einem Menschen hilft, der Wahrheit über sich selbst näher zu kommen, indem man sich vor Gottes Antlitz stellt, erscheint mir positiv. Was mich an manchen heutigen Angeboten irritiert, ist einerseits die mangelnde Ausbildung der Begleiter, die oft mit sehr schweren psychischen Nöten konfrontiert werden. Und andererseits ist es die Umwidmung mancher Charismen oder Praktiken zu “therapeutischen" Zwecken und vor allem der “Diagnose-Boom", die Suche nach Verletzungen um jeden Preis.

Besteht die Gefahr, daß die Heilung zum Selbstzweck wird?

Madre: In den Evangelien heilt Christus niemals, nur um zu heilen. Er heilt, um in Seine Liebe zu ziehen, um aufzurütteln, um ein Zeugnis zu geben, um tiefer angenommen zu werden: Er heilt, um sich zu offenbaren, um zu evangelisieren, um Seine Worte durch Zeichen zu verstärken, um eine “verlorene Seele" heimzuholen. Die Heilung ist eine Gnade, die Gott einem Mann, einer Frau, einer Gemeinschaft schenkt. Dieses Charisma erfordert eine fortgesetzte Wachsamkeit, damit es nicht für unsere Eitelkeit mißbraucht wird, für unseren Willen, therapeutische Erfolge zu erzielen oder für noch subtilere Anliegen. Leider erlebe ich immer häufiger solche “Veruntreuungen".

Wie findet man aber heraus, ob eine innere Heilung wirklich authentisch ist?

Madre: Vor allem nicht die Früchte ansehen! Ich meine: die unmittelbar und offenkundig sichtbaren. Ein vorübergehender innerer Frieden, psychisches Wohlbefinden, eine flüchtige Heiterkeit sind meiner Meinung nach keine guten Maßstäbe. Man sollte den Baum nämlich nicht nach den zeitlichen Früchten beurteilen, sondern nach denen des Reiches Gottes: eine wirkliche Umkehr, eine Hinwendung zu Gott, eine tiefere Verwurzelung im Glaubensleben, eine Neuordnung der Existenz... Die authentische Frucht ist nicht, daß man sich besser fühlt, sondern daß man - nach einem Wort von Maurice Zundel - im Leben Fuß faßt, um es Gott und den anderen zu schenken.

Setzt die Heilung nicht voraus, daß man die Ursache des Traumas entdeckt?

Madre: Bei der inneren Heilung ist das Wirken des Geistes der Wahrheit das eigentlich Wichtige: das kommt noch am ehesten dem nahe, was man in der Psychologie als Bewußtmachung bezeichnet. Wenn es mir aber schlecht geht, so ist das wichtigste nicht, die Ursache zu finden - etwa jene Begebenheit, als ich drei Jahre alt war -, sondern es geht darum, mir objektiv und gesichert bewußt zu machen, welche zutiefst persönliche und emotionale Reaktionen ich auf diese verletzenden Umstände in der Vergangenheit in mir trage.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Madre: Ein junger Arzt leidet an einer fixen Idee: Es quält ihn seit zehn Jahren die Angst, er könnte einen Kunstfehler machen. Das lähmt ihn. Im Zuge der Gespräche suchen wir nach der Ursache für die Neurose. Verletzungen finden wir da mehr als genug: im Mutterschoß (seine Mutter war voll Angst während der Schwangerschaft); in der frühen Kindheit (der viel zu autoritäre Vater hat ihn zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr traumatisiert); die spätere Kindheit (ein Erzieher hat in geprügelt, als er sieben war)...

Im Zuge dieser besonderen Begleitung war es nun nicht so wichtig, den Mann dazu zu führen, daß er sich all das Verletzende bewußt machte, sondern daß er entdeckte, was da “an die Oberfläche steigen" wollte. Und das war ein tiefsitzender Haß auf seine Mutter. Er war sich dessen überhaupt nicht bewußt, ja im Gegenteil, er verehrte die Mutter! Innerhalb von zwei Wochen erkannte er, daß dieser Haß eine versteckte Reaktion auf eine, ja mehrere dieser Verletzungen war. Welch ein Knalleffekt in seinem Leben! Das war aber der Ort in der Lebensgeschichte des Arztes, den der Herr aufsuchen wollte. Dieser Mann mußte einen bewußten Schritt der Versöhnung und Vergebung setzen. Und der Haß verschwand... In drei Monaten war er von einer psychiatrisch schwer zu behandelnden Neurose geheilt.

Können Eltern verhindern, daß ihre Kinder vorzeitig Verletzungen erleiden?

Die harmonische Entfaltung des menschlichen Lebens von der Empfängnis an erfolgt in einer von Liebe getragenen Beziehung. Die Tatsache, daß dieser kleine Mensch lebt, macht ihn unbedingt liebesbedürftig. P. Thomas Philippe betont, daß die Kinder lange vor ihrer Geburt ein Bewußtsein von Liebe haben. Sie sind überempfänglich für ein Klima der Liebe oder Nicht-Liebe, das sie umgibt. Das heißt aber wiederum nicht, daß es auch gleich verletzt wird ...

Von wann an ist der Embryo wahrnehmungsfähig?

Madre: Das weiß ich nicht. Aber nur keine Panik! Eine Verletzung entsteht nicht automatisch, wenn es zwischen den Eltern Streit gibt, nicht einmal wenn die Liebe der Eltern zeitweise gestört oder abgekühlt ist. Da braucht man nicht pessimistisch oder manichäisch zu sein.

Philippe Madre ist Mitbegründer der Gemeinschaft der Seligpreisungen. Das Gespräch mit ihm führte Lux Adrian in “Famille Chrétienne" v. 28.2-5.304

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