VISION 20006/2008
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Die Götzen in unseren Tagen

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Hat sich die gegenwärtige Welt nicht ihre eigenen Götzen geschaffen? Hat sie etwa nicht, vielleicht auch unbewußt, die Heiden des Altertums nachgeahmt, indem sie den Menschen von seinem wahren Ziel abbrachte, von der Glückseligkeit, ewig mit Gott zu leben? Dies ist eine Frage, die jeder Mensch, der sich selbst gegenüber ehrlich ist, sich stellen muß. Was ist wichtig in meinem Leben? Was setze ich an die erste Stelle?

 

Das Wort “idole" (franz. für “Götze") kommt aus dem Griechischen und bedeutet “Bild", “Figur", “Darstellung", aber auch “Gespenst", “Phantom", “vergängliche Erscheinung". Der Götze ist eine Täuschung, denn er bringt seinen Betrachter von der Wirklichkeit ab, um ihn ins Reich des Scheins zu verbannen. Aber ist dies nicht eine Versuchung, die unserer Epoche eigen ist, die die einzige ist, auf die wir wirksam einwirken können? Die Versuchung, eine Vergangenheit, die nicht mehr ist, zu vergötzen und dabei deren Mängel zu vergessen; die Versuchung, eine Zukunft, die noch nicht existiert, zu vergötzen und dabei zu glauben, daß der Mensch mit seinen Kräften allein das Reich ewiger Glückseligkeit auf der Erde schaffen kann!

 

Der heilige Paulus erklärt den Kolossern, daß die unersättliche Begierde ein Götzendienst ist und erinnert seinen Schüler Timotheus daran, daß die Geldgier die Wurzel aller Übel ist. Weil sie sich ihr hingegeben haben, führt er weiter aus, “sind nicht wenige ... vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet". Haben etwa nicht das Geld, die Gier nach Besitz, nach Macht und sogar nach Wissen den Menschen von seinem wahren Ziel, von der ihm eigenen Wahrheit abgebracht?

 

Liebe Brüder und Schwestern, die Frage, die uns die Liturgie dieses Tages stellt, findet ihre Antwort in genau dieser Liturgie, die wir von unseren Vätern im Glauben, insbesondere vom hl. Paulus selbst (vgl. 1 Kor 11,23), ererbt haben. In seinem Kommentar zu diesem Text hebt der hl. Johannes Chrysostomus hervor, daß der heilige Paulus den Götzendienst streng als “schwere Schuld", als “Ärgernis", als wahre “Pest" verurteilt (Homilie 24 über den Ersten Korintherbrief, 1). Er fügt unmittelbar hinzu, daß diese radikale Verurteilung des Götzendienstes in keinem Fall eine Verurteilung der Person des Götzendieners ist. Niemals dürfen wir bei unseren Urteilen die Sünde, die unannehmbar ist, mit dem Sünder verwechseln, dessen Gewissenslage wir nicht beurteilen können und der auf jeden Fall immer zu Bekehrung und Vergebung fähig ist.

 

Der heilige Paulus appelliert dabei an die Vernunft seiner Leser, an die Vernunft jedes Menschen, die ein starkes Zeugnis der Gegenwart des Schöpfers im Geschöpf ist: “Ich rede doch zu verständigen Menschen; urteilt selbst über das, was ich sage".

 

Niemals verlangt Gott, dessen bevollmächtigter Zeuge der Apostel hier ist, vom Menschen, seine Vernunft zu opfern! Niemals tritt die Vernunft in einen wirklichen Gegensatz zum Glauben! Der eine Gott - Vater, Sohn und Heiliger Geist - hat unsere Vernunft erschaffen und schenkt uns den Glauben, indem er unserer Vernunft anbietet, diesen als wertvolle Gabe zu empfangen.

 

Der Götzenkult ist es, der den Menschen von dieser Perspektive abbringt, und die Vernunft selbst kann sich Götzen schmieden. Bitten wir daher Gott, der uns sieht und hört, daß er uns helfe, uns von allen Götzen zu reinigen, um zur Wahrheit unseres Seins, um zur Wahrheit seines unendlichen Seins zu gelangen.

 

Aus Predigt bei der Heiligen Messe auf der Esplanade des Invalides am 13. September 2008


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