VISION 20001/2016
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Versöhnt mit den Verstorbenen

Artikel drucken Die geheimnisvolle Verbindung mit Toten (Urs Keusch)

In dem bekannten und lesenswerten Büchlein Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers  lesen wir von einer rührenden Begegnung des Pilgers mit einem andern Pilger, einem ehemaligen russischen Fürsten. „Er war alt und hinfällig und so arm, dass er fast nackt und bloß war.“ Dieser erzählt dem Pilger – wenige Tage vor seinem Tod – in einem Bettlerheim „zum Ruhme Gottes“ seine Lebensgeschichte:

„Ich war der Fürst N., besaß ein großes Vermögen und führte ein glänzendes, üppiges und zerstreutes Leben. Meine Frau starb, und ich lebte mit meinem Sohn zusammen, der Gardehauptmann war. Als ich mich einmal anschickte, auf einen Ball zu einer hochgestellten Persönlichkeit zu fahren, ärgerte ich mich über meinen Kammerdiener; ich konnte nicht an mich halten und versetzte ihm einen schweren Schlag auf den Kopf und befahl, dass er wieder ins Dorf zurück solle. Dieses geschah am Abend, tags darauf aber war der Kammerdiener an einer Gehirnhautentzündung gestorben. Aber dies bekümmerte mich nicht sehr; ich bedauerte meine Unvorsichtigkeit, vergaß die Geschichte aber bald wieder.
Sechs Wochen waren darüber hingegangen, da geschah es, dass mir dieser verstorbene Kammerdiener erst im Traum erschien; Nacht für Nacht beunruhigte er mich und machte mir Vorwürfe; unentwegt wiederholte er: ‚Gewissenloser, du bist mein Mörder!‘ Alsdann erschien er mir auch im wachen Zustande, am helllichten Tage.
Und von Tag zu Tag mehrten sich diese Erscheinungen, bis es schließlich so weit kam, dass er mich fast unaufhörlich beunruhigte. Dann kam es dahin, dass ich zusammen mit ihm auch andere verstorbene Männer erscheinen sah, die ich schwer beleidigt, und Frauen, die ich verführt hatte. Sie alle machten mir ununterbrochen Vorwürfe und gaben mir keine Ruhe, so dass ich weder schlafen noch essen, noch mich beschäftigen konnte… ganz elend war ich geworden, nur Haut und Knochen. Alle Bemühungen berühmter Ärzte waren vergebens...
In diesem qualvollen Zustande erkannte ich meine Sünden, bereute, beichtete, gab allen meinen leibeigenen Bedienten die Freiheit und tat das Gelübde, ich würde mir mein Leben lang die schwersten Mühen aufladen und mich als Bettler verborgen halten, um wegen meiner Sünden der allerletzte Diener unter den Menschen niedersten Standes zu sein. Kaum hatte ich mich hierzu fest entschlossen, als auch die Erscheinungen, die mich beunruhigten, aufhörten. Ich empfand eine solche Freude und Seligkeit ob der Versöhnung mit Gott, dass ich dies gar nicht mit Worten wiederzugeben vermag...“
Von ähnlichen Erfahrungen mit Verstorbenen lesen und hören wir immer wieder; es gibt sie auch heute. Sie zeigen, dass mit dem Tod von Angehörigen nicht einfach alle Probleme aus der Welt geschafft sind, die wir mit ihnen hatten, sondern dass ihr jenseitiges Leben geheimnisvoll auf unser Leben bezogen bleibt. „Selbst wenn wir vorübergehend ‚getrennte Seelen‘ sind, bleiben unsere Verstorbenen mit dem materiellen Universum verbunden“, schreibt Bischof André-Mutien Léonard in seinem Buch Jenseits des Todes. Oft ist es auch umgekehrt als bei diesem Fürsten: Dass Verstorbene erscheinen und Angehörige um Verzeihung bitten, damit diese endlich ihren Frieden finden können.
Jeder Seelsorger weiß, wie wichtig es ist, dass Angehörige über den Tod hinaus an ihrer Versöhnung arbeiten mit den verstorbenen Menschen, mit denen sie innerlich nicht im Reinen sind. Unversöhnlichkeit, jahrelange Abneigung oder Hassgefühle in der Ehe, verdrängte Schuldgefühle, unbereinigte finanzielle Angelegenheiten und so weiter können der Grund sein, dass Verstorbene sich nicht lösen können, dass sie in unerklärlicher Weise in das Leben der Angehörigen hinein wirken, so dass Angehörige vor Angst oft nicht mehr schlafen können und krank werden.
Es versteht sich von selbst, dass auch Erbschaftsangelegenheiten mit Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit und im gebührenden Respekt vor dem letzten Willen der Verstorbenen durchgeführt werden müssen.
„In diesem qualvollen Zustande erkannte ich meine Sünden, bereute, beichtete, gab allen meinen leibeigenen Bedienten die Freiheit...“, sagt der Bettler-Fürst von sich. Dieses Beispiel zeigt, dass Vergebung und Versöhnung vor allem und zuerst mit Gott zu tun haben, wenn wir Menschen beleidigt, verletzt oder ihnen Schaden zugefügt haben. Und es zeigt ferner, dass sich das Leichtnehmen und Vergessen von begangenem Unrecht auf geheimnisvolle Weise schon in dieser Zeit an uns rächt. Wahrhafte Vergebung setzt Einsicht in die Schuld voraus, wahrhafte Reue, ehrliches Bekenntnis und innere ernste Umkehr (Buße) und Wiedergutmachung.


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