VISION 20001/2016
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Aufbruch aus der Komfortzone

Artikel drucken Einladung zu „heiligen Verrücktheiten“ (P. George Elsbett LC)

„Wie kam es zu dem langweiligen und gelangweilten Christentum, das wir in der Neuzeit be­obachten?“ Diese Frage hat Jo­seph Ratzinger in einem seiner Werke beschäftigt. Sie ist eine An­frage an unsere Art, als Chri­sten zu leben. Sie steht auch im Zen­trum des folgenden Beitrags.

Man schreibt das Jahr 31. Im Halbdunkel haben sich Männer versammelt. Simon ergreift das Wort. „Brüder! Wir können einfach nicht mehr länger tatenlos zuschauen! Ich sage euch: Er ist wahnsinnig geworden! Es ist schlimm genug, dass er die Ehre seines Vaters missachtet, indem er seine Tätigkeit nicht weiterführt. Immer mehr stellt er durch sein Tun unser aller Lebensweise in Frage.
Er verführt die Menschen, die Bräuche unserer Väter zu ändern. Er ruft zur Bekehrung auf! Ist er besser als wir? Für wen hält er sich denn eigentlich? Und es wird immer schlimmer. Jetzt erreichen uns Berichte, dass er nicht mehr schläft, die ganze Nacht durchbetet, nichts mehr isst, sich selbst immer mehr verausgabt. Psychoseverdacht! Größenwahn! Helfersyndrom! Ess- und Schlafstörung! Wir müssen ihn mit Gewalt nach Hause führen, bevor die Situation völlig außer Kontrolle gerät!“
 

So in etwa stelle ich mir eine etwas modernere Variante von Mk 3,20-21 vor. Scharen von Menschen kommen, um Jesus zu sehen. Die Jünger müssen ein Boot bereitstellen, dass er nicht von den Massen erdrückt wird. Von morgens bis abends ist er ständig im Einsatz. Predigen, heilen, Gespräche führen, lehren, die Menge, die Jünger, Fußmärsche, die Hitze des Tages, die Kälte der Nacht. Er ist zuweilen so müde, dass er sogar inmitten eines Sturmes, in dem das Boot unterzugehen droht, nicht aufwacht, bis ihn einige Jünger in ihrer Todesangst wecken.
Und jetzt wieder: „Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“
Ich kann es euch nicht wirklich erklären. Aber „Er ist von Sinnen“ hat mich vor ein paar Tagen so richtig gebeutelt. Es war eigentlich nur eine harmlose Bibellesung (ich versuche jeden Tag einige Kapitel zu lesen) und ich hatte nicht vor, diesen Satz zu beachten oder sogar zu betrachten. Es war auch nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz gelesen hatte. Erfahrungen sind grundsätzlich schwieriger zu beschreiben als abstrakte Begriffe.
Irgendwie hatte ich aber etwas tiefer begreifen dürfen: Hatte mir einmal jemand gesagt, ich sei von Sinnen? Ja, vielleicht in der Schule, aber seither? Worin ich mir aber schon sicher bin: Noch niemand ist jemals vor meiner Tür gestanden, um mich, weil ich zu viel, zu intensiv, zu radikal das Evangelium lebe, mit Gewalt abzuführen.
Das stimmt mich nachdenklich. Sehr nachdenklich sogar. Bei Jesus war das anders. Warum? Und was sagt mir das über ein Christsein, das Gefahr läuft, sich mit Parolen wie „die goldene Mitte“, „man muss ja Maß halten“, „nur nicht zu sehr auffallen“ zu betäuben?
„Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien. Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt. Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst; und kaufe von mir weiße Kleider und zieh sie an, damit du nicht nackt dastehst und dich schämen musst; und kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst ... Mach also ernst und kehr um!“ (Offb 3,15-18)
 

„Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49) Es ist schon interessant, dass die einzige weitere Stelle in der Bibel, wo das „von Sinnen“ noch vorkommt, in den Paulusbriefen zu lesen ist: „Wenn wir nämlich von Sinnen waren, so geschah es für Gott; wenn wir besonnen sind, geschieht es für euch. Denn die Liebe Christi drängt uns.“ (2.Kor 5,11)
Wie der Meister, so sein Jünger. Denn die Liebe Christi drängt ihn. Drängt sie auch mich? Ich meine wirklich? Woran ist das zu sehen? Wo leuchtet das Feuer der Liebe in meinem Leben auf? Wir stehen am Beginn des Jahres der Barmherzigkeit. „Die Barmherzigkeit ist keine Gabe um einen billigen Preis,“ sagte einmal Papst Benedikt. Denn Jesus Christus hat die ganze Last der Sünde auf sich genommen, seine leidenschaftliche barmherzige Liebe geht so weit, dass er sogar die Auswirkungen meiner Sünde in seinem Leib tragen würde.


Seine leidenschaftliche Liebe drängt ihn in die Krippe und an das Kreuz. Wohin drängt sie mich? Drängt sie mich aus meiner Komfortzone? Zum Gebet? Zum Einsatz meiner Ressourcen? Meiner Zeit? Meiner Fähigkeiten? Drängt sie mich zu den Bedürftigen, den Armen, den Einsamen, den Verlassenen, den Ausgestoßenen, den Hungrigen, den ohne Gott Lebenden, zu dem, der die Liebe Gottes noch nicht kennt?
Gibt es in meinem Leben heilige Verrücktheiten wie zum Beispiel mal einige Stunden Nachtanbetung, eine Spende, die mich wirklich etwas kostet und nicht nur vom Überfluss kommt, einen Missionseinsatz? „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5). Und es drängt den Geist, uns umzugestalten in die Leidenschaft Gottes für die Welt, die Jesus Christus heißt. Für die Welt ist er von Sinnen, aber für Gott „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“. (1 Kor 1,24) Die Liebe drängt. Lassen wir uns drängen?

Der Autor ist Hausoberer der Niederlassung der Legionäre Christi in Wien und Regionalkoordinator des Regnum Christi in Österreich.

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