VISION 20006/2018
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Der Krise begegnen

Artikel drucken Lehren aus der Kirchengeschichte (Von Kardinal Walter Brandmüller)

Die heutige Kirchenkrise habe sich abgezeichnet, stellt der Kirchenhistoriker Brandmüller fest und lädt den Leser zu einem Blick auf eine ähnliche Situation vor 1000 Jahren ein. Was damals half, könnte zur Krisenbewältigung beitragen.

Die Erfahrung, dass sexueller Missbrauch und Homosexualität im Klerus, ja sogar in der Hierarchie der Kirche namentlich in Amerika, Australien und Europa geradezu epidemisch verbreitet sind, erschüttert die Kirche unserer Tage bis in den Grund, wenn man nicht sogar von einer Art Schockstarre sprechen will. Es geht um ein Phänomen, das, wenngleich auch schon früher vorhanden, in dem heute gegebenen horrenden Ausmaß bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts unbekannt war.
Die Frage drängt sich auf, weshalb es soweit hat kommen können. Auf der Suche nach Antwort kommt neben der durch extremen Liberalismus bestimmten Gesellschaft von heute sogleich die Moraltheologie der letzten Jahrzehnte und ihre Vertreter in das Blickfeld.
Einige Meinungsführer aus ihren Reihen haben den klassischen naturrechtlichen und offenbarungstheologischen Ansatz verlassen, und neue Theorien verkündet. Autonome Moral, die allgemeinverbindliche Normen nicht anerkennen will, Konsequenzialismus, der die ethische Qualität einer Handlung nach ihren Folgen beurteilt, oder Situationsethik, die Gut oder Böse einer Handlung von den jeweiligen konkreten Umständen des menschlichen Handelns abhängig macht – all diese Neuansätze in der Moraltheologie wurden nun in den theologischen Hörsälen bzw. Priesterseminaren von Professoren vertreten – und natürlich auch auf die Sexualmoral angewandt. Da nun konnte auch Homosexualität als sittlich vertretbar und deren klare Verurteilung durch die Heilige Schrift als zeitbedingt und deshalb überholt dargestellt werden.
Im Hintergrund war die alte, klassisch modernistische Überzeugung wirksam, dass – man folgte dem Schema „Evolution“ – die Dynamik der Entwicklung der Menschheit zu einer jeweils höheren Kulturstufe auch Religion und Moral erfasste. So konnte auf einem erreichten nächst höheren Bewusstseinsniveau heute sich als sittlich erlaubt erweisen, was gestern noch verboten war. Es sind bekannte Namen, die hier zu nennen wären, auch solche, die an Päpstlichen Universitäten lehrten, ohne dass sie ihres Amtes enthoben wurden.
Die Folgen davon waren bald zu sehen, als Priesterseminaren besonders in den Vereinigten Staaten sich zu Brutstätten der Homosexualität entwickelten. Der Ex-Jesuit Malachi Martin hat in seinem Schlüsselroman The Windswept House (1996) ein Bild der so entstandenen Szenerie entworfen, das sich in unseren Tagen als erschreckend wirklichkeitsgetreu erwiesen hat.
Auf das Offenbarwerden dieser Verderbnis reagierten die ebenso erschrockenen wie empörten Katholiken auf breiter Front, wie die entsprechenden Internetportale etc. eindrucksvoll zeigen. Als Folge davon begann alsdann der gewohnte üppige Geldfluss in die vatikanischen Kassen aus Stiftungen katholischer Laienorganisationen zu versiegen: Nicht der Episkopat, die Laien begannen, das Heft in die Hand zu nehmen. Die Verweigerung der gewohnten reichen Spenden wird nicht zu Unrecht als Protest gegen das Versagen Roms in der gegenwärtigen Krise verstanden. Und eben damit folgten sie – vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein – einem historischen Vorbild aus dem Hohen Mittelalter.
Es war eine vergleichbare Situation der zunächst italienischen Kirche des 11./12. Jahrhunderts. Eine Folge davon, dass Papsttum, Bischofssitze, ja einfache Kirchenämter im Laufe des ersten Jahrtausends wegen ihrer finanziellen Einkünfte mehr und mehr begehrenswert erschienen, war, dass um deren Besitz gestritten, gekämpft, gehandelt wurde. Man nannte dieses Übel Simonie. (…)
 Hinzu kam der Anspruch weltlicher Herrscher, in die Besetzung hoher Kirchenämter einzugreifen – Laieninvestitur – und natürlich das Konkubinat vieler Priester. Ebenso erging es selbst dem Papsttum, das im 9. und 10. Jahrhundert geradezu zum Zankapfel zwischen den römischen Adelssippen der Creszenzier und der Tuskulaner geworden war. Diese setzten dann – auf welche Weise auch immer - jeweils die eigenen Söhne oder Verwandten als Päpste ein. Darunter waren auch sehr junge und moralisch haltlose Männer, die sich eher als Herren des Patrimoniums Petri denn als oberste Hirten der Kirche fühlten.
Im Gefolge dieser Entwicklung wuchs sich auch – weshalb auch immer – die Homosexualität innerhalb des Klerus in solchem Maße aus, dass der heilige Petrus Damiani im Jahr 1049 dem eben gewählten Papst Leo IX. (1049-1954) seinen in Briefform abgefassten Liber antigomorrhianus überreichte, in dem er sich mit dieser Gefahr für die Kirche und das Seelenheil vieler auseinandersetzte. Der Titel des Traktats bezieht sich auf die gemäß Gen 18f. um ihrer Lasterhaftigkeit willen zusammen mit Sodom von Gott dem Untergang geweihten Stadt Gomorrha. (…)
Er schreibt: „Das Krebsübel der Homosexualität nistet sich im Gefüge der Kirche ein. Wie eine wilde, rasende Bestie wütet sie im Schafstall Christi mit solcher Kühnheit und Freiheit, dass das Seelenheil vieler unter dem Joch der Knechtschaft von Laien sicherer ist, als nach dem freiwilligen Eintritt in den Dienst Gottes unter dem ehernen Gesetz der Tyrannis Satans“, das im Klerus herrschte.
Es ist in hohem Maße bemerkenswert, dass nahezu zur gleichen Zeit eine Laienbewegung sich formierte, die sich nicht nur gegen die Unsittlichkeit im Klerus, gegen das Konkubinat der Priester, sondern auch gegen den Zugriff von Laiengewalten auf die kirchlichen Ämter bzw. deren Käuflichkeit wandte. (…)  Es war die „Pataria“ genannte breite Volksbewegung, deren Führer aus dem Stadtadel Mailands, die Anhänger hingegen aus dem Volk, einige der Führer auch aus dem Klerus stammten, die eben dagegen Protest erhob.
In enger Zusammenarbeit mit den römischen Reformern um Petrus Damiani, und dann mit Gregor VII., dem bedeutenden Kirchenrechtslehrer Bischof Anselm von Lucca – später Papst Alexander II. – und anderen drängten die Patarener auch mit Gewalt auf die Durchführung der später nach Gregor VII. benannten Reform: Für einen treu gelebten Zölibat des Klerus, gegen Besetzung von Bistümern durch Laiengewalten und Simonie.Interessant daran ist, dass hier die Reformbewegung geradezu gleichzeitig in den oberen hierarchischen Zirkeln Roms und in der breiten Laienbevölkerung der Lombardei als Antwort auf einen als unhaltbar empfundenen Zustand aufgebrochen ist.
Dieses Zweckbündnis war indes nicht von Dauer. Als sich nämlich in der Folge die einzelnen Zweige der Armutsbewegung bildeten, dabei aber den bewusst kirchlich-hierarchischen Impuls der frühen Franziskus-Brüder nicht aufgriffen, sondern durch ihr spontanes unautorisiertes Predigen den Widerstand einer Hierarchie herausforderten, die die Zeichen der Zeit nicht verstand, glitten nicht wenige der „Armen Christi“ durch ihre Ablehnung der sakramental begründeten Hierarchie in Irrtum und Ungehorsam ab. Es entstanden die verzweigten häretischen Armutsbewegungen, die erst durch die weitsichtige Pastoral Innozenz’ III. zu einem größeren Teil wieder kirchlich integriert werden konnten.
Diese Entwicklung in unserem Zusammenhang zu erwähnen ist deshalb sinnvoll, weil auch heute manche dieser Elemente wieder zu erkennen sind, wenn allzu „engagierte“ Laien sich gegen Priester und Bischöfe wenden. Daraus ergeben sich heute wie damals Konflikte zwischen einem im Institutionellen und Bürokratie erstarrten Episkopat – inklusive Römische Kurie – und Bewegungen von Laien, die sich von den Hirten und Lehrern der Kirche, von den Nachfolgern der Apostel, verlassen, wenn nicht gar verraten fühlen.
Es wird seitens der Hierarchie und des Klerus nicht geringer Anstrengungen bedürfen, den so entstandenen Vertrauensverlust seitens der Gläubigen zu überwinden. Gewiss hat die Glaubenskongregation bezüglich der Moraltheologie Dokumente wie etwa „Persona humana“ (1975) veröffentlicht. Auch wurde zwei Professoren wegen theologischer Irrtümer 1972 bzw. 1986 die Lehr­erlaubnis entzogen, und einige Bücher zur Sexualmoral wurden beanstandet. Doch die eigentlich maßgeblichen Irrlehrer wie der Jesuit Josef Fuchs, der von 1954-1982 an der Pontificia Università Gregoriana lehrte und Bernhard Häring, der an der römischen Hochschule der Redemptoristen lehrte, wie auch der überaus einflussreiche Bonner Moraltheologe Franz Böckle oder der Tübinger Alfons Auer konnten unter den Augen Roms und der Bischöfe ungehindert die Saat des Irrtums ausstreuen.
Die Haltung der Glaubenskongregation bzw. der Bischöfe in diesen Fällen ist im Rückblick schlechthin unverständlich. Man sah den Wolf kommen und sah zu, wie er in die Herde einbrach. Die Enzyklika „Veritatis splendor“ Johannes Pauls II.(…) hat die Grundlagen der katholischen Sittenlehre zwar in großer Klarheit dargestellt, ist aber weithin auf Ablehnung der Theologen gestoßen. Vielleicht auch, weil sie erst erschienen ist, als der moraltheologische Zerfall schon zu weit fortgeschritten war.
So unverständlich und beklagenswert aber das Versagen der Hierarchie auf der einen und so notwendig und lobenswert das Engagement der Laien (gerade in der augenblicklichen Situation) auch ist: in beider Haltung und Verhalten sind erhebliche Gefahrenmomente zu erkennen: Bewirkt das oben skizzierte Verhalten der sogenannten “Amtskirche”, die sich eher um Finanzen und Verwaltung kümmert, einen zunehmenden Auszug ehemals katholischer Bevölkerungen aus der Kirche, so läuft ein allzu selbstbewusstes Laientum Gefahr, das auf heiliger Weihe beruhende Wesen der Kirche zu verkennen und im Protest gegen das Versagen der Hierarchie in evangelikales Gemeindechristentum abzugleiten.
So sehr also das im Augenblick vor allem im nordamerikanischen Katholizismus sich formierende bewusst katholische Laientum wegen seines Protestes gegen sexuelle Verwilderung unter Priestern, Bischöfen, ja Kardinälen nicht nur zu verstehen, sondern anzuerkennen und zu ermutigen ist, so wenig darf auch die konstitutive Bedeutung des im Weihesakrament gründenden Priester- und Bischofsamtes außer Blick geraten – ebenso wenig wie die Tatsache, dass die große Zahl der Priester in Treue ihrer Berufung entsprechend lebt. Indes könnte gerade die zwischen beiden Polen wirksame Spannung für eine Überwindung der gegenwärtigen Krise durchaus fruchtbar werden. (…)
Im Zusammenwirken von Bischöfen, Priestern und Gläubigen kann und muss in der Kraft des Heiligen Geistes auch die Krise unserer Tage zum Startpunkt einer geistlichen Erneuerung - und so auch der Neuevangelisierung - einer postchristlichen Gesellschaft werden.
Auszug aus kath.net v. 6.11.18

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