VISION 20001/2022
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Das Leben: Ein Geschenk oder eine Zumutung?

Artikel drucken Es sind nicht die Funktionen, die den Wert des Lebens bestimmen (Von Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz)

Die Entchristlichung Europas hat zur Folge, dass grundlegende Sinnfragen neu beantwortet werden. Das betrifft insbesondere das Verständnis von  Leben und Tod des Menschen. Im Fol­genden eine Situationsbeschreibung und der Versuch, den Sinn von Leben und Tod aus christlicher Sicht zu beleuchten.

Schon seit 200, eigentlich fast 300 Jahren gab es Verschiebungen in der Wahrnehmung des Sterbens in Europa, die dazu führen, dass es nicht mehr christlich beantwortet wurde. Aus solcher gnadenlosen Erfahrung stammen auch die Stimmen von heute, die im Namen der Autonomie des Menschen das autonome Sterben fordern: den selbstgewählten Übergang mit hygienischen Methoden, mit gebührendem Abschied von den anderen, in Würde, wie es ausgedrückt wird, um den biologischen Vorgang mündig zu vollziehen. Daher gibt es die Forderung, ob die Selbstbestimmung der Auflösung meiner eigenen Biologie nicht in der Tat zu meiner Würde gehört.
In der sogenannten „Freien Welt“, der wir uns zurechnen, hat sich in den letzten Jahrzehnten der Gedanke einer uferlosen Freiheit entwickelt. Alles, was diese uferlose Freiheit einschränkt, wurde als Demütigung empfunden. Zum Luxus­problem wurden erstaunlicherweise einige Fragen, welche die Menschheit bis dahin nicht gestellt hat. Erstens: „Hat es überhaupt Sinn, geboren zu werden?“ Man wird hineingeworfen, ohne gefragt zu werden. Zweitens: „Bin ich denn verbindlich in einer Familie so entstanden, dass ich mich in Zukunft auch zu ihr zählen muss? Ich habe meine Familie nicht gewählt, kann ich mich nicht ausklinken?“
Diese Thematik steht damit in der Signatur von Freiheit, alles das, was uns bis jetzt existentiell definiert hat – also überhaupt da zu sein, geboren zu sein, letztlich von Vater und Mutter zu stammen – widerspreche unserem hochgetriebenen Problem der Mündigkeit. Wir stehen also vor der Frage, ob unsere Existenz uns nicht verschiedene Dinge aufdrängt oder ob wir sie letztlich juristisch selbstverständlich zurückweisen können.
Das hat eine philosophische Vorarbeit, nämlich folgende Frage: Muss unsere Natalität überhaupt anerkannt werden? Muss ich überhaupt akzeptieren, geboren zu sein? Hannah Arendt hat es als „Glück des Daseins“ bezeichnet, die Tatsache der „Natalität“, das Geborensein, das als Keim in allem sitzt und Gesetz unserer Bewegungen ist.
Es war ein Philosoph, Ludger Lütkehaus, der die Gegenargumentation geführt hat. Man müsse überhaupt nicht vom Geschenk des Lebens sprechen, auch nicht vom Licht der Welt. Vielmehr werde man in ein undurchschautes Dunkel ungewollter und unbestellter Existenz geworfen. Er wirft Hannah Arendt vor, sie sei „Kronzeugin eines Halleluja-Positivismus“.
Wir bereiten uns darauf vor, alles, was mich ausmacht, zuerst einmal anzufragen, also nicht nur meinen eigenen Tod, sondern überhaupt erst einmal die Frage zu stellen, ob ich überhaupt Lust dazu habe zu leben. Das Geschenk des Lebens – ist es ein Geschenk, ist es nicht eher eine Zumutung?
Es gab einen Prozess in Frankreich, wo es um einen Jungen von 14 Jahren ging, der eine Behinderung hatte und seine Mutter verklagte, weil sie ihn nicht abgetrieben habe. Das Gericht hat damals gegen ihn entschieden. Aber es ist die Frage, ob es heute auch so entscheiden würde.
Diesen Gedanken wollen wir erst einmal festhalten und kommen damit zum Tod: Gibt es Vorgaben in meinem Dasein, die ich akzeptieren soll?
Diese Frage wird heute gestellt. Ist Geborensein etwas, das ich als zwingend für mich annehmen muss? Die Antwort: Keineswegs. Ist das Leidwesen Mensch tatsächlich dazu verpflichtet, ein Leben anzunehmen, das wiederum mit Leid verknüpft ist? Hier sind nicht nur Behinderungen gemeint, nicht nur seelische Schmerzen, nicht nur der Alterungsprozess. Grundsätzlicher wird gefragt, ob das Leben an sich nicht eine Zumutung ist. Wenn man diese Fragen so stellt, kommt man an die Gewalt, mit der heute versucht wird, die eigene Abschaffung, den Suizid, als den Tag äußerster Freiheit, als den Protest gegen das eigene Geborensein zu verstehen.
Wie kann man also jemanden davon überzeugen, dass sich das Leben überhaupt lohnt? Diese Frage muss man stellen, bevor man fragen kann, ob Suizid überhaupt sittlich erlaubt ist.

Jedes menschliche Leben ist  sinnvoll
Ein ungeheurer Wille, so Augustinus, schafft mich rufend, wie ich bin: „Volo ut sis – ich will, dass du seist.“ Selig, dass ich bin: Dieser Wille ist Glück und unerhörte Schöpferkraft. Gewollt zu sein, nicht von den Eltern – von diesen hoffentlich auch –, aber grundsätzlich gewollt zu sein, und grundsätzlich Gabe an sich selbst zu sein. Niemand ist eines anderen Zweck. – Mein Leben ist nicht vorrangig Funktion, steht gar nicht im Dienst, weder einer Gesellschaft noch meiner selbst. Funktion ist zweckhaft! Der Unterschied zwischen Zweck und Sinn in aller Kürze: Das Leben ist zwecklos, aber sinnvoll.
Die wesentlichen Vollzüge unseres Daseins sind zwecklos, aber sinnvoll. Woraufhin sind sie gerichtet? In eine Beziehung, aus der heraus ich mein Leben empfangen habe und in das ich es wieder zurückgebe. Sinn ist Richtung. Ich werde mein Leben nicht leben, indem ich es rein von mir selbst her betrachte, sondern indem ich frage, woher ich komme und worauf ich wieder zugehe.
Das ist Beziehung, und Beziehung ist etwas, das zieht, Attraktivität. Martin Buber: „Am Du gewinnt sich das Ich.“ Das ist Sinn! Beziehung nicht zu einem Stein, nicht zu einem Baum, nicht zu der Natur, nicht zu Vielem, was uns freut. Nein, wir richten uns auf ein Gesicht, weil wir selbst auch ein Gesicht haben.
In dieser Beziehung liegt Sinn! Zweckloser Sinn. Übrigens genau wie die Liebe zwecklos ist, sehr wohl aber sinnvoll. Mein Leben ist vorrangig überhaupt nicht Funktion für andere, es ist auch nicht wertlos, wenn es nicht mehr funktioniert. Sich selbst und anderen das Leben gönnen, wird zum Maßstab einer Kultur. Noch einmal: Das Leben lässt sich nicht aus Zwecken definieren.
Leben muss befreit sein von der Angst der Zweckhaftigkeit. Das ist Kultur, befreit von der Ein­engung und Beschwerde anderer, die meinen, dass man ihnen in diesem Fall zur Last fällt. Niemand muss als Raub verteidigen oder verfrüht wegwerfen, was ihm aus unerklärlicher Überfülle gegeben ist: das eigene Leben!
Sterben lässt sich, wenn man empirischen Untersuchungen traut, besser, wenn der Sterbende ein Ziel hinter den hiesigen Zielen kennt. Religiöse Menschen sterben leichter. Anders gewendet, wenn ein Sterbender sich auf Ziele hinter den Zielen verlässt, im schönen Doppelsinn des deutschen Wortes „sich verlassen“: von sich und allen anderen Gütern weggeht und dabei vertraut, bei etwas Gutem anzukommen.
Es ist der Vorzug, die Prärogative, der monotheistischen Religionen, dass dieses Gute ein Antlitz trägt; es ist der Gute und nicht das Gute. Es ist die Prärogative des Christentums, dass dieses wartende und erwartete Antlitz selbst auch ein Sterbender war, der bis heute als Sterbender abgebildet wird. In der Matthäuspassion Bachs heißt es: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten, kraft Deiner Angst und Pein.“ Zum selben Prärogativ gehört auch, dass das Sterben Jesu Christi und Seine Auferstehung wie das eigene Nachsterben als Überwindung und Umkehrung des Todes in gelöstes Leben verstanden wird.
Sterben will als Durchgang zum Leben verstanden werden. Solche Zusammenhänge lassen sich nicht beweisen, sie lassen sich aber mit anderen Entwürfen vergleichen. Es ist das Aufbrechen in eine neue Welt, nicht in eine wiederholte alte, nicht in die ägyptischen Totenstädte auf der linken Seite des Nils, die das Lebende wiederholen. Das Ziel heißt, nochmals mit Augustinus: „Videntem videre“ – endlich den sehen, der mich immer schon ansieht. Endlich eintreten in das, was mich immer schon begleitet. Hans Urs von Balthasar (Eschatologie in unserer Zeit, Einsiedeln, 114) formuliert großartig: „Man kann doch wohl nicht sagen, dass man von der Zeit als ‚Vergangenheit’ zurückblicken wird. Als sei das, was wir Liebstes erlebt, Kostbarstes erfahren haben, uns genommen, auch wenn es durch Besseres ersetzt würde. Als sei das ewige Leben ein zweites, dem ersten nachfolgendes Dasein. Nein: was wir jetzt unerfüllt leben – was wir vergeuden, und dem wir immerfort den Abschied geben – das eben wird sich in seiner ewigen Tiefe enthüllen. Oder sollen wir auf schönere Rosen warten, auf größere vielleicht, die länger blühen und besser duften? Nein, Gottes Geschöpfe, und nicht ihr Doppel sind so, wie sie sind, vollkommen. Nur sehen wir’s jetzt nicht und einst werden wir’s sehen. Nun scheint alles dagegen zu sprechen, aber einst wird alles dafür sprechen.“

Die Autorin ist Philosophin und leitet das „Europäische Institut für Philosophie und Religion“ an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Heiligenkreuz. Ihr Beitrag ist der überarbeitete Auszug aus ihrem Vortrag „Ars Moriendi“ vor dem „Alten Orden vom St. Georg“ im August 2021.


In voller Länge ist der Vortrag von Prof. Gerl-Falkovitz in einem kleinen Buch mit allen Vorträgen der Tagung des Ordens im August zum Thema „Das Recht auf Leben und die Freude am Leben“ nachzulesen.  Zu einem Unkostenbeitrag von  15 € zu beziehen bei:

STOLBERG RELATIONS
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Frankenberggasse 13/14
Mobil: +43 664 326 2932
peter.stolberg@chello.at     
Auf YouTube kann man die Vorträge ansehen:

https://www.aovstg.org/arbeitskonvent-2021/   

           




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