VISION 20001/2007
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Christen: Vorhut der Zukunft

Artikel drucken Christus will nicht Leisetreter, sondern Bekenner (Von Kardinal Joachium Meisner)

Die Frage, wer Jesus Christus ist, wird - so sagen die Fachleute - die Zentralfrage der katholischen Theologie in der Zukunft hierzulande sein. Das ist auch gut so!

Gut wäre es auch gewesen, wenn dies in der jüngsten Vergangenheit auch so gewesen wäre. Nie wurde ein Persönlichkeit der Geschichte mehr geliebt oder mehr gehaßt als Jesus Christus. Für ihn gingen die Märtyrer in den Tod und gegen Ihn verfolgte man Seine Brüder und Jünger und schickte sie in die Verbannung. Für Ihn opferten Frauen und Männer ihr Blut und gegen Ihn schrieb man Bücher und verfaßte man Manifeste. Für Ihn gaben und geben viele alles hin, Leib, Leben, Gut und gegen Ihn machen viele Karriere, schließen faule Kompromisse und verletzen ihre Gewissen.

In der Tat, Christus sprengt alle bisherigen Denkmodelle der Menschen. Sein Reich ist ohne Grenzsteine, ohne Jahreszahlen. Sein Binnenschild ist das Kreuz, das den Juden immer schon ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit ist - und wahrscheinlich heute den lieben Christen beides zusammen. In der Tat: Die Frage nach Jesus Christus, wer Er ist und was Er bringt, ist heute aktueller denn je.

Unsere Welt ist voller Lehrer, voller Schüler, voller Schulen. Alle Lehrer dieser Welt kommen von unten. Sie müssen erst selbst studieren, ehe sie dozieren. Die großen Religionsstifter wie Buddha, Mohammed oder Konfuzius kommen von unten - trotz der inneren Erfahrung der eigenen Seele.

Die großen Naturwissenschaftler wie Newton, Max Planck oder Albert Einstein kommen von unten. Sie schöpfen ihr Wissen aus dem Experiment. Die großen Philosophen wie Platon, Aristoteles oder Kant kommen von unten. Sie schöpfen ihr Wissen aus der Vernunft. Die großen Künstler wie Mozart, Bach, Händel kommen von unten, sie schöpfen ihr Können aus der eigenen Intuition.

Jesus Christus ist ganz anders. Er kommt von oben. Er ist ein neuer Lehrer voller Macht. Er ist gekommen, um von der Wahrheit Zeugnis zu geben. Er ist außer Konkurrenz, weil Er der einzige ist, der von oben kommt, und das verkündet, was Er beim Vater gesehen hat. Er ist Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, wie das Glaubensbekenntnis es formuliert. Wenn Er Seinen Mund auftut, hören wir das Wort des ewigen Gottes.

Christus ist unter allen Lehrern dieser Welt analogielos. Daher hat er nicht eine Schule begründet, sondern eine Nachfolge. Er ist kein Gott der Philosophen, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und daher will Er nicht den Funktionär, sondern den Jünger. Er will nicht den religiösen Beamten, sondern den Märtyrer. Er will nicht den Leisetreter, sondern den Bekenner. Er braucht für Seine Sache nicht nur Theoretiker, sondern den Mystiker, den Menschen, der Ihn nicht nur weiß, sondern der Ihm begegnet. Denn Seine Sache ist gar keine Sache, sie ist Er selbst, der Sohn.

“Geliebt, gehaßt, aber wenigstens bekannt", ist ein theologischer Artikel im ersten Jahrhundert überschrieben. Das könnte man auch am Ende des 20. Jahrhunderts von Ihm sagen: Geliebt, gehaßt, aber wenigstens bekannt. Weil Christus keine Schule gegründet hat, sondern eine Nachfolge, ist es eine Fehlentwicklung, wenn die Kirche nur zu einer riesigen Lehrschule geworden ist, gleichsam zu einer pädagogischen Einrichtung, um die Menschen einige Wahrheiten, einige Lehrsätze zu lehren.

Der Glaube an Jesus Christus hat seine Quelle im Ereignis der Menschwerdung Gottes, das in der Krippe von Bethlehem bis zum leeren Grab in Jerusalem sichtbar wird. Der Begegnungsort mit dem menschgewordenen Gott in Jesus Christus ist darum heute nicht in erster Linie die Universität, sondern die authentisch gefeierte Liturgie der Kirche.

Vor der Reflexion muß die Erfahrung stehen. In der Liturgie ist das, was übersinnlich ist, sinnlich wahrnehmbar geworden. Hier greifen wir nach dem Himmel und nach allem, was in ihm ist. Und der Himmel mit den himmlischen Mächten steigt auf die Erde herab und berührt uns. Er gerät in unsere Reichweite.

Die unsichtbaren himmlischen Mächten loben Gott zusammen mit uns auf Erden. Wir legen hier alle intellektuelle Verengung und Wahrnehmung ab und transzendieren mit der Gnade die durch die Sinne hergestellte Gemeinschaft in die “communio sanctorum" mit Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde.

Die Engel Gottes sind erstaunt über diese Herablassung Gottes. Und der Mensch staunt über seinen eigenen Aufstieg. Das Wort ist zu uns Menschen herabgestiegen, ist Mensch geworden und war unter uns unsichtbar im Geist und sichtbar in seinem Fleisch und Blut gegenwärtig. Und dann kehrte Er zum Vater zurück. Und mit Ihm ist auch der Mensch aufgefahren und vergöttlicht worden. In Seiner Kirche hat Er sich selbst hinterlassen - alle Tage bis zum Ende der Welt.

Diese Gegenwart Gottes in der Kirche ist kein ideelles, sondern ein existentielles Ereignis. Sie berührt nicht nur unseren Intellekt, sie durchzieht all unsere Glieder, Herz und Nieren. Diese Gegenwart Gottes macht die wiederholte Begegnung mit Ihm möglich. Hier vermag der Mensch Gott zu schmecken.

Dieser Gott schmeckt immer nach mehr. Und damit vergeht alle Appetitlosigkeit, alle Geschmacklosigkeit, alle Abgeschmacktheit an Gott und Seiner Welt. Und der Mensch schmeckt die hinreißende Faszination dieses Gottes. Christus hat uns nicht nur Kunde gebracht von diesem Gott. Er hat Ihn uns selbst berührbar in seiner Menschwerdung gebracht.

Überblickt man etwa die Themenfelder gegenwärtiger Diözesanforen oder die Themenkataloge deutscher Bischofskonferenzen und der Zentralkomitees deutscher Christen oder ähnlicher Einrichtungen dann meint man, wir wüßten alle nicht, was die Stunde geschlagen hat.

Es geht doch heute letztlich nicht mehr um Detailfragen wie Zölibat, viri probati, Priesterweihe der Frau... Das ist alles Schnee von vorgestern. Heute geht es erstlich und letztlich um die Gottesfrage, um die Christusfrage. (...)

Der Mensch kann nicht über sich selbst hinauswachsen, wenn er nur an sich selber glaubt. Er braucht den Glauben an Gott. Gott ist Existenz. Er ist wirklich gegenwärtig. Er wirkt, handelt und trägt. Er ist nicht nur unser ferner Ursprung oder unser weit vor uns liegendes Ziel. Nein, Er trägt mein gegenwärtiges Dasein.

Er hat nicht abgedankt von Seiner Weltmaschine, weil sie angeblich selbst funktioniert. Die Welt ist und bleibt Seine Welt. Die Gegenwart ist Seine Zeit, nicht Vergangenheit oder Zukunft. Er lebt in ständiger Gegenwart. Er kann wirklich handeln und handelt ganz real in dieser Welt, in unserem Leben bis ins Detail.

Hand aufs Herz: Trauen wir Ihm das zu? Dann dürften wir doch nicht mit so gequälten Gesichtern durch die Welt gehen. Sehen wir Ihn noch als die Wirklichkeit im Kalkül unseres Lebens? Haben wir begriffen, daß die erste Tafel der 10 Gebote der fundamentale Anspruch Gottes auf das menschliche Leben ist?

Wir sind nur Geschöpfe - aber wirklich Geschöpfe, das heißt herkünftig von Gott und zukünftig auf Gott hin. Nicht aus dem Zufall kommt der Mensch und auch nicht aus dem Kampf ums Dasein. Er kommt aus Gottes schöpferischer Liebe.

Unter einem solchen Himmel kann man leben. Kann man atmen und sich entfalten. Das müssen wieder die Hauptthemen unserer Verkündigung in der Kirche sein. Unsere Gläubigen müssen doch wieder siegesbewußt sein und Selbstbewußtsein bekommen! Wir sind doch nicht die letzte Nachhut des Mittelalters! Wir sind die Vorhut einer Zukunft, von der die meisten Zeitgenossen noch gar keine Ahnung haben. Wir haben Grund mit geradem Rücken und erhobenen Hauptes durch die Welt zu gehen - nicht weil wir besser sind als andere Leute. Aber unser Gott ist es!

Predigt des Kölner Erzbischofs im Rahmen der 11. Internationalen Theologischen Sommerakademie in Aigen im Mühlkreis 1999.

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