VISION 20006/2021
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Weltliche Lehren, die aggressiver werden

Artikel drucken Gedanken über die geistige Konfrontation, die Christen heute herausfordert (Von Erzbischof José Gomez)

Die Corona-Pandemie habe Entwicklungen beschleunigt, die sich schon lange abgezeichet hatten, stellt der Vorsitzende der US-Bischofskonferenz im folgenden Beitrag fest. Er untersucht, welche Herausforderungen dies für Christen darstellt.

In unseren Ländern ist eine elitäre Führungsschicht entstanden, die wenig Interesse an Religion hat und keine wirkliche Bindung an die Nationen, in denen sie leben, oder an lokale Traditionen oder Kulturen. Diese Gruppe, die in Unternehmen, Regierungen, Universitäten, den Medien sowie in den kulturellen und beruflichen Einrichtungen Verantwortungsträger ist, möchte eine globale Zivilisation aufbauen, die auf einer Konsumwirtschaft basiert, die von Wissenschaft, Technologie und humanitären Werten sowie technokratischen Ideen zur Organisation der Gesellschaft geleitet wird.
In dieser elitären Weltsicht braucht es keine altmodischen Glaubenssysteme und Religionen. Tatsächlich steht die Religion, insbesondere das Christentum, ihrer Ansicht nach nur jener Gesellschaft im Weg, die sie aufbauen wollen.
Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu halten. In der Praxis bedeutet Säkularisierung, wie unsere Päpste betont haben, „Entchristlichung“. In Europa und Amerika wird seit Jahren bewusst versucht, die christlichen Wurzeln der Gesellschaft auszulöschen und verbliebene christliche Einflüsse zu unterdrücken.
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Wir alle haben die dramatischen sozialen Veränderungen in unseren Gesellschaften mit dem Aufkommen des Coronavirus wahrgenommen und die Art und Weise, wie unsere Regierungsbehörden auf die Pandemie reagiert haben.
Ich denke, im Rückblick der Geschichte wird man feststellen, dass es nicht die Pandemie war, die unsere Gesellschaft primär verändert hat, vielmehr hat sie Trends und Richtungen beschleunigt, die bereits am Werk waren. Gesellschaftliche Veränderungen, die Jahrzehnte gedauert haben mögen, vollziehen sich nun im Zuge dieser Pandemie und der Reaktionen unserer Gesellschaften schneller.
Dies gilt auf jeden Fall für die Vereinigten Staaten.
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Ich glaube, der beste Weg für die Kirche, die neuen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zu verstehen, besteht darin, sie als Pseudoreligionen und sogar als Ersatz und Rivalen für klassische christliche Überzeugungen zu verstehen.
Mit dem Zusammenbruch der jüdisch-christlichen Weltanschauung und dem Aufkommen des Säkularismus haben politische Glaubenssysteme, die auf sozialer Gerechtigkeit oder persönlicher Identität basieren, den Raum ausgefüllt, den der christliche Glaube und die christliche Lebenspraxis einst besetzten.
Wie auch immer wir diese Bewegungen nennen – „soziale Gerechtigkeit“, „Wokeness“, „Identitätspolitik“, „Intersektionalität“, „successor ideology“ – sie alle behaupten, das zu bieten, was die Religion bietet. Sie liefern den Menschen eine Erklärung für Ereignisse und Zustände in der Welt. Sie bieten Sinn, Lebenssinn und das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Darüber hinaus erzählen diese neuen Bewegungen – genau wie das Christentum – ihre eigene „Heilsgeschichte“.
Um zu erklären, was ich meine, lassen Sie mich versuchen, die christliche Geschichte kurz mit der Geschichte der „Woke­ness“ oder der Geschichte der „sozialen Gerechtigkeit“ zu vergleichen.
Die christliche Geschichte lautet in ihrer einfachsten Form ungefähr: Wir sind nach dem Bilde Gottes geschaffen und zu einem gesegneten Leben in Gemeinschaft mit Ihm und unseren Nächsten berufen. Das menschliche Leben hat ein von Gott gegebenes „Telos“ (Anm.: Ziel), eine Absicht und eine Richtung. Durch unsere Sünde sind wir von Gott und voneinander entfremdet und leben im Schatten unseres eigenen Todes.
Durch die Barmherzigkeit Gottes und Seine Liebe zu jedem von uns werden wir durch das Sterben und Auferstehen Jesu Christi gerettet. Jesus versöhnt uns mit Gott und unseren Nächsten, schenkt uns die Gnade, in Sein Bild verwandelt zu werden, und ruft uns auf, Ihm im Glauben zu folgen, Gott und unseren Nächsten zu lieben und daran zu arbeiten, Sein Königreich auf Erden aufzubauen, alles in der zuversichtlichen Hoffnung, dass wir mit Ihm das ewige Leben in der zukünftigen Welt haben werden. Das ist die christliche Geschichte. Und mehr denn je müssen die Kirche und jeder Katholik diese Geschichte kennen und in all ihrer Schönheit und Wahrheit verkünden. (…)
Was wir die „Woke“-Geschichte nennen könnten, sieht in etwa so aus: Wir können nicht wissen, woher wir kommen, aber wir sind uns bewusst, dass wir gemeinsame Interessen haben mit denen, die unsere Hautfarbe oder unsere Position in der Gesellschaft teilen. Wir sind uns auch schmerzlich bewusst, dass unsere Gruppe ohne eigenes Verschulden leidet und entfremdet ist. Der Grund für unser Unglück ist, dass wir Opfer der Unterdrückung durch andere Gruppen in der Gesellschaft sind. Wir werden befreit und finden Erlösung durch unseren ständigen Kampf gegen unsere Unterdrücker, indem wir im Namen einer gerechten Gesellschaft einen Kampf um politische und kulturelle Macht führen.
Dies ist eindeutig eine kraftvolle und attraktive Erzählung für Millionen von Menschen in der amerikanischen Gesellschaft und in Gesellschaften im ganzen Westen. Tatsächlich fördern und lehren viele der führenden amerikanischen Unternehmen, Universitäten und sogar öffentlichen Schulen diese Vision aktiv.
Diese Geschichte schöpft ihre Stärke aus der Einfachheit ihrer Erklärungen: die Welt ist in Unschuldige und Opfer, Verbündete und Gegner geteilt.
Aber diese Erzählung ist auch deshalb attraktiv, weil sie, wie ich bereits sagte, auf echte menschliche Bedürfnisse und Leiden reagiert. Die Menschen sind verletzt, sie fühlen sich diskriminiert und von Chancen in der Gesellschaft ausgeschlossen.
Das sollten wir nie vergessen. Viele von denen, die sich diesen neuen Bewegungen und Glaubenssystemen anschließen, sind von edlen Absichten motiviert. Sie wollen gesellschaftliche Verhältnisse verändern, die Männern und Frauen ihre Rechte und Chancen auf ein gutes Leben verweigern.
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Die heutigen kritischen Theorien und Ideologien sind zutiefst atheistisch. Sie leugnen die Seele und die spirituelle, transzendente Dimension der menschlichen Natur; oder sie denken, dass dies für das menschliche Glück irrelevant ist. Sie reduzieren das, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, auf im Wesentlichen körperliche Eigenschaften – unsere Hautfarbe, unser Geschlecht, unsere Vorstellungen von Gender, unsere ethnische Herkunft oder unsere Stellung in der Gesellschaft.
Zweifellos können wir in diesen Bewegungen bestimmte Elemente der Befreiungstheologie erkennen, sie scheinen aus derselben marxistischen Kulturvision zu stammen. Außerdem ähneln diese Bewegungen einigen der Häresien, die wir in der Kirchengeschichte finden.
Wie die frühen Manichäer sehen diese Bewegungen die Welt als einen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Wie die Gnostiker lehnen sie die Schöpfung und den Körper ab. Sie scheinen zu glauben, dass Menschen alles werden können, was wir aus uns machen wollen.
Diese Bewegungen sind auch pelagianisch und glauben, dass die Erlösung durch unsere eigenen menschlichen Bemühungen ohne Gott erreicht werden kann.
Und als letzten Punkt möchte ich anmerken, dass diese Bewegungen „utopisch“ sind. Sie scheinen wirklich zu glauben, dass wir durch unsere eigenen politischen Bemühungen eine Art „Himmel auf Erden“ schaffen können, eine vollkommen gerechte Gesellschaft.
Nochmals, meine Freunde, mein Punkt ist folgender: Ich glaube, dass es für die Kirche wichtig ist, diese neuen Bewegungen zu verstehen und zu bekämpfen – nicht in sozialer oder politischer Hinsicht, sondern, weil sie ein gefährlicher Ersatz für wahre Religion sind.
Indem sie Gott verleugnen, haben diese neuen Bewegungen die Wahrheit über die menschliche Person verloren. Dies erklärt ihren Extremismus und ihren harten, kompromisslosen und unversöhnlichen Umgang mit der Politik. Und weil diese Bewegungen vom Standpunkt des Evangeliums aus die menschliche Person leugnen, so gut sie sonst auch sein mögen, können sie kein echtes menschliches Gedeihen fördern. Tatsächlich führen diese streng säkularen Bewegungen, wie wir in meinem Land erleben, zu neuen Formen der sozialen Spaltung, Diskriminierung, Intoleranz und Ungerechtigkeit.
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Die Frage ist: Was ist zu tun? Wie sollte die Kirche auf diese neuen säkularen Bewegungen für sozialen Wandel reagieren?
Meine Antwort ist einfach. Wir müssen Jesus Christus verkünden. Mutig, kreativ. Wir müssen unsere Heilsgeschichte auf neue Weise erzählen. Mit Nächstenliebe und Zuversicht, ohne Angst. Dies ist die Mission der Kirche in jedem Zeitalter und in jedem Moment in den Kulturen.
Wir sollten uns von diesen neuen Religionen der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Identität nicht einschüchtern lassen. Das Evangelium bleibt die stärkste Kraft für soziale Veränderungen, die die Welt je gesehen hat. Und die Kirche war von Anfang an „antirassistisch“. Alle sind in ihre Botschaft des Heils miteingeschlossen.
Jesus Christus kam, um die neue Schöpfung zu verkünden, den neuen Mann und die neue Frau, denen die Macht gegeben wurde, Kinder Gottes zu werden, erneuert nach dem Bild ihres Schöpfers.
Jesus lehrte uns, Gott als unseren Vater zu kennen und zu lieben, und Er rief Seine Kirche auf, diese gute Nachricht bis ans Ende der Welt zu tragen…

Erzbischof José Gomez ist mexikanischen Ursprungs und seit 2011 Erzbischof von Los Angeles. Seit 2019 ist er Vorsitzender der US-Bischofskonferenz. Sein Beitrag ist ein Auszug aus der Videobotschaft „Reflexionen über die Kirche und Amerikas neue Religionen“ vom 4.11.2021 zum Kongress „Katholiken und das öffentliche Leben“ in Madrid. Quelle: kath.net.

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