VISION 20006/2023
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Sich kostbar fühlen

Artikel drucken Der Mensch braucht die Erfahrung, dass er geliebt wird (Christian Spaemann)

„Du bist kostbar“ – „das mag stimmen, ich fühle mich aber nicht kostbar“… In diesen beiden Sätzen kommt das Spannungsverhältnis des Menschen zwischen seinem objektiven Status vor Gott und seiner häufig anzutreffenden subjektiven Verfassung zum Ausdruck.

 
Christian Spaemann  

Sich kostbar zu fühlen, hat viel damit zu tun, sich geliebt zu wissen. Das Sich-geliebt-wissen ist eine Art Eingangspforte zum Bewusstsein für die eigene Kostbarkeit. Für dieses Bewusstsein muss das Wertvolle, das   man für den anderen darstellt, erkannt, gespürt und angenommen werden. Es geht um einen Aneignungsprozess dieser Liebe und zwar lebenslang. Grundlage hierfür ist die Liebe der Eltern, insbesondere der Mutter.
Im weiteren Verlauf des Lebens sind es die natürlichen Prozesse unserer geistigen und emotionalen Reifung und Entwicklung, die uns im Zusammenspiel mit unseren Mitmenschen die Möglichkeit geben, uns mehr und mehr um unserer selbst willen, also nicht, weil wir in dieser oder jener Weise funktionieren, als wertvoll zu empfinden. Dieses Empfinden schließt dann aber auch die Annahme der eigenen Grenzen und Beschränktheit mit ein. Es bedeutet vor allem auch die Annahme unserer leiblichen und seelischen Natur, die wir mit dem Tierreich teilen. Es geht um das tiefe Empfinden für unsere spezifisch menschliche Würde als Teil der Schöpfung, als kreatürliche Wesen.
Wir sehen also, dass das Empfinden für unsere Würde, unseren Wert und unsere Kostbarkeit in das ganze Geflecht unserer psychischen Entwicklung eingebunden ist, zu der auch unsere individuell verschiedenen angeborenen seelischen Eigenschaften und Tendenzen gehören.
Dieses Geflecht ist in jeder Hinsicht, von Mensch zu Mensch in verschiedenem Ausmaß brüchig. Vom angeborenen körperlichen Makel bis zum Fehlen eines Elternteils, von der egozentrischen Mutter bis zum Mobbing in der Schule oder dem Verlassenwerden durch den Ehepartner, überall finden wir Lebenssituationen, die uns infrage stellen, die uns sagen, dass wir nicht so wertvoll und kostbar sind.
Wir sind es aber auch selber, die unseren Wert und unsere Würde infrage stellen. Unsere Faulheit, unsere Charakterschwäche, der Umgang mit unserer Sinnlichkeit, unsere Unordnung… wir selber rufen uns zu: „du bist ja offensichtlich nicht sonderlich wertvoll“.
Aber auch wenn wir von diesen Defiziten absehen, wenn wir überall die positiven Varianten des Lebens anschauen, die Bestätigung, die wir von unseren Eltern und später von anderen Menschen erhalten, kann nie eine absolute, sondern immer nur eine begrenzte sein, sie kann uns nie in der Tiefe unserer Existenz umfassen. Andernfalls wären die Eltern oder Ehepartner wie Götter. Das mögen sie in den Augen des Kindes oder der frisch Verliebten eine Zeit lang sein, mehr aber auch nicht. In unserer existenziellen Tiefe können wir uns letztlich nur als von Gott Gemeinte, gewollte und beim Namen Genannte wertvoll und kostbar fühlen. Nur unter dieser Sonne können wir wirklich aufblühen, Liebe entfalten und zu einer echten und beständigen Freude gelangen.
Und nun hören wir wieder den Satz, „das mag alles stimmen, ich fühle mich aber nicht kostbar“. Unverbundenheit, Traurigkeit, innere Leere und Wüste sind Dämonen unserer Zeit und drohen, unsere Seelen zu verschlingen. Sich für Freundschaft und Liebe öffnen, auf den anderen zugehen, sich seiner vergewissern, um Verbundenheit kämpfen, all das soll nicht spirituell übersprungen werden, all das kann auch Gegenstand einer Psychotherapie sein. Allerdings dürfen wir uns von der Entwicklung auf dieser Ebene nicht alles erwarten. Unser Leben kann sich bessern, ja, es kann sich sogar wesentlich bessern, die Bedingungen unseres inneren und äußeren Menschseins bleiben dennoch brüchig und begrenzt.
Egal, wo wir auf diesem irdischen Weg unserer Seele stehen, als Christen sind wir immer, überall und zu jeder Zeit eingeladen, uns dem Ewigen zuzuwenden und bei ihm Trost, Liebe und Freude zu empfangen. Angesichts dieser Wirklichkeit entsteht auch die unverkrampfte, ja geradezu natürliche Motivation, sich um ein vor Gott geordnetes Leben zu bemühen. Wie können wir den Grundwasserspiegel unseres lebendigen Gottesbewusstseins heben? Eine Wüste zu begrünen, ist kein leichtes Unterfangen. Allzu schnell kollabiert das mühsam konstruierte Ökosystem wieder in die Wüste zurück. Regen wäre die Lösung. Die Sonne hat genügend Licht für jeden. Die Frage ist nur, ob wir uns ihr aussetzen, ob wir die Rollos unserer Seele wenigstens soweit anheben, dass das Licht durch eine Ritze scheinen kann.
Am Anfang der spirituellen Heilung steht die Annahme, dass Gott tatsächlich existiert. Eine Annahme, auf die wir uns mit Herz und Verstand einlassen müssen, damit Seine Gegenwart mehr und mehr unser Bewusstsein erfasst und unser Herz mit Ehrfurcht erfüllt. Es geht um diese konkrete Berührung mit Gott, für die wir uns Zeit nehmen. Das Schöne am christlichen Glauben ist, dass es da, wo diese Berührung konkret wird, keine Wertungen gibt. Ob eine Mutter mit zahlreichen Kindern ein ehrliches Stoßgebet ausspricht, ob jemand einen Psalm-Vers wirklich verkostet oder ein Mönch radikal in die Stille geht, um Gott sein Herz hinzuhalten, immer ist es die gleiche Berührung mit Gott. Das Christentum ist hier voller Freiheit. Wichtig auf diesem Weg ist, dass wir die konkreten Bilder, die uns Gott selbst, vor allem durch die Heilige Schrift zur Verfügung stellt, auch annehmen. So können wir zum Beispiel die Kraft, Liebe und Sicherheit, die wir bei Gott finden, besser erfahren, wenn wir das Bild des Vaters, das er uns gibt, ganz annehmen. Dass Gott geschlechtslos ist, weiß ja eh jedes Kind. Ähnliches gilt für Maria, die uns als Mutter vorgestellt wird. Erst wenn wir uns auf die Eindeutigkeit des Mutterbildes einlassen, können wir Ihre Liebe, Fürsorge und Vermittlung zu ihrem Sohn erfahren. In dieser geistlichen Eindeutigkeit liegt auch aus psychologischer Perspektive ein tiefes Heilungspotenzial für all die brüchigen und begrenzten Beziehungen, in denen wir leben und großgeworden sind. Hier findet sich der Weg zu dem ehrlich gesprochenen Satz, „Ja, ich fühle mich kostbar“.

Der Autor war bis 2011 Leiter der Klinik für Psychische Gesundheit, Fachabteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, am Krankenhaus in Braunau. Seither ist er in freier Praxis in Schalchen bei Mattighofen tätig.

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