VISION 20006/2023
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Menschliches Leben: Mehr als eine Kraft – eine Person

Artikel drucken Erfahrbar machen, dass der Mitmensch kostbar ist (Von Anna Diouf)

Alex Schadenberg hat einen weiten Weg zurückgelegt: Aus Kanada ist er nach Berlin gekommen, um uns am Vorabend des Marsches für das Leben aus erster Hand über die Lebensrechtsbewegung in Kanada zu unterrichten – ein erschütterndes Zeugnis.

 
Anna Diouf  

Es ist nicht das Übel der Abtreibung, das ihn an diesem Abend umtreibt, so entsetzlich es auch ist. Ihm geht es um Euthanasie, oder „Assistierten Suizid“, wie die Tötung eines Menschen auf dessen Wunsch hin verharmlosend genannt wird. Als Mitbegründer der „Euthanasia Prevention Coalition“ weiß Schadenberg aus erster Hand um die Entwicklungen in Kanada: Eine liberale Politik, die unter dem Deckmantel der Humanität dafür sorgt, dass Töten leichter und billiger ist als Helfen: Die behinderte Sportlerin, der man nicht den Treppenlift für den Rollstuhl zahlen will, wohl aber die Selbsttötung. Die Veteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung, denen man nahelegt, ihrem Leiden doch lieber ein Ende zu setzen, indem sie sich selbst umbringen. Die Frau mit suizidalen Gedanken, die ins Krankenhaus geht, um Hilfe zu erhalten, der man aber vorschlägt, dem Verlangen doch kontrolliert und „sicher“ nachzugeben. Kranke, Obdachlose, Alte, die keinen Sinn in ihrem Leben sehen, keine Perspektive haben und darum den Assistierten Suizid „wählen“: Die pessimistischen Prognosen von gestern als Realität einer postchristlichen Welt. Wer keinen Wert in seinem eigenen Leben erblickt oder ihn von Anderen zugebilligt bekommt, soll sterben.
Eine erschreckende Entwicklung, aber keinesfalls eine überraschende. Es war abzusehen, dass mit der Verdunstung des Chris­tentums früher oder später auch jene „Werte“, die aus ihm erwachsen sind, verschwinden würden: Die Einsicht, dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde hat, dass jedes Leben un­ermess­lich wertvoll ist.
Denn dieses Bekenntnis lässt sich ohne den Glauben an Gott nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Gerade in Diskussionen über assistierten Suizid tritt dieses Problem immer wieder hervor.
Dass niemand ein unschuldiges Kind umbringen dürfen sollte, nur, weil es sich zufällig noch im Körper der Mutter befindet, ist auch ohne Glauben an Gott noch einigermaßen gut zu vermitteln. Dagegen ist es schwierig, ohne Rekurs auf die Transzendenz zu erklären, warum der Mensch denn nicht Herr seines eigenen Lebens sein sollte. Ein Leben kann von enormen Schmerzen erfüllt sein, unter so unwürdigen Bedingungen leiden – ist es da nicht gerade im Sinne der Nächs­tenliebe oder Humanität, es zu beenden – „frei“ und „selbstbestimmt“?
Auch Christen sind vor diesem Irrtum nicht gefeit. Zum einen sind wir der Propaganda ausgesetzt, die das Recht auf grenzenlose Freiheit und den exzessiven Materialismus unserer Zeit in unsere Gehirne hämmert. Man wirkt schon einigermaßen exotisch, wenn man sich nicht davon überzeugen lässt, dass auch wir nur Material seien, mit dem wir tun können, was wir wollen.
Zum andern ist es leicht, sich auf allgemeine Floskeln zurückzuziehen – doch spätestens, wenn extreme Beispiele genannt werden, kommen wir an unsere Grenzen: Können wir denn ernsthaft an einen derart grausamen Gott glauben, dass wir denken, dass er einen Menschen lieber leiden statt sterben lassen will? Eine gemeine Frage; aber ist sie unberechtigt?
Es sind solche Fragen, die uns einladen, uns und unseren Glauben ehrlich zu prüfen: Sind wir davon überzeugt, dass das Leben nicht bloß eine Eigenschaft oder Kraft ist, sondern eine Person, Gott, das Sein selbst? Sind wir davon überzeugt, dass dieser Gott zugleich die Liebe ist, dass wir also alle in einem Beziehungsgeflecht stehen, untereinander und vor allem in die Transzendenz hinein? Dass jeder von uns seinen eigentlichen Lebenssinn in dieser Beziehung findet, und dass sie zu kappen der größte Schmerz ist, ein ewiges Leiden, das schlimmer ist als jedes andere Leid?
Und was folgt praktisch aus unseren Antworten? Hier liegt vielleicht eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: Wir sind zurückgeworfen in Verhältnisse, wie sie die ersten Christen vorfanden, als sie, aus ihrem jüdischen Erbe heraus mit einem bedingungslosen Bekenntnis zum Leben ausgestattet, auf eine heidnische Antike trafen, in der es von Sklaverei bis Kindstötung völlig selbstverständlich war, den Wert eines Lebens an Bedingungen zu knüpfen.
Wir können uns nicht auf Traditionen verlassen, die den Menschen genügend religiöses Vokabular und genügend Grundlagen vermitteln, um halbwegs die richtigen Entscheidungen zu treffen und ein gottgefälliges Leben zu führen. Wir müssen tatsächlich Seele um Seele für Christus gewinnen. Und wir müssen das selbst tun: Die allermeisten Menschen erleben Gott nicht mehr in der Kirche, in der Liturgie oder in den Sakramenten.
Die einzigen Monstranzen, durch die sie Christus erblicken können, sind wir selbst, die Getauften, die Christus und den Heiligen Geist in sich tragen und die Verpflichtung haben, Ihn für Außenstehende sichtbar zu machen.
Darin liegt also eine ungeheure Chance, auch für uns selbst und unser eigenes Christsein: Wie die ersten Christen haben wir keine Institutionen, an die wir diese Aufgabe delegieren können. Unser Verhalten, unsere Zuwendung zum Nächsten sind von einer Bedeutung, wie es in der westlichen Welt jahrhundertelang nicht der Fall war.
Wir müssen Gott nicht durch Gelehrsamkeit und Theologie sichtbar machen. Nein, viel anstrengender: Es geht darum, wie wir sprechen, wie wir den Anderen ernstnehmen, uns seiner annehmen. Wenn ein Mensch nicht durch unseren liebevollen Blick die Liebe des Vaters spürt, wenn er nicht dadurch, wie wir mit ihm umgehen, die eigene Kostbarkeit erkennen kann, können wir die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, unter der viele Menschen leiden, nicht lindern.
Natürlich müssen wir die großen Übel unserer Zeit auch auf den großen Bühnen der Welt bekämpfen: Politisch, juristisch, gesellschaftspolitisch. Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, dass diese Übel im Kleinen beginnen: Da, wo ein Mensch seine eigene Würde nicht mehr spürt, da, wo ihn Lieblosigkeit in die Isolation treibt, und wo er nichts Sinnstiftendes in seinem Leben mehr findet. Darum reicht es nicht, wenn wir als Christen den Menschen nur sagen, dass das Leben kostbar sei, oder schön, oder heilig. Wir müssen uns wieder trauen, dem Anderen zuzusprechen: Du bist heilig. Du bist schön. Du bist kostbar.

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