VISION 20001/2015
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365 Mal „Fürchtet euch nicht!“

Artikel drucken Der Wohlstand macht nicht sorgenfrei – im Gegenteil (Von Johannes Holdt)

365 mal: Fürchtet euch nicht! Dreihundertfünfundsechzigmal steht in der Heiligen Schrift der Satz: „Fürchte dich nicht!“ Für jeden Tag des Jahres einmal. Anscheinend haben wir die Versicherung, dass uns nichts passieren kann, täglich nötig.

Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“, fragt Jesus seine Jünger, die sich beim Sturm über dem See Genezareth fürchten (Mk 4,40). Auch uns gilt diese Frage des Herrn. Denn es wird kaum jemanden geben, der nicht die Angst kennt. Der nicht manchmal von Ängsten heimgesucht, vom Dämon Angst geplagt und in die Mangel genommen wird, so dass es eng wird (Angst kommt von Enge).  
Bei den Ängsten, die uns befallen, geht es um die unterschiedlichsten Dinge: Angst vor der Zukunft, etwa vor dem nächsten Tag; Angst vor Niederlagen und Misserfolgen; Angst vor Krankheit, Einsamkeit, vor feindseligen Zeitgenossen; Angst in Form eines unbestimmten Gefühls der Bedrohung. Im Kern sind alle Ängste in einer Ur-Angst verwurzelt: der Todesangst.
Jede Angst  ist  Angst vor dem Verlust an Leben.
Angst vor dem Untergang hatten die Jünger im Boot – und  keine unbegründete.  Schon schlagen die Wellen ins Boot, jeden Augenblick kann es kentern. Kein Wunder, dass Petrus um Hilfe schreit. Und trotzdem rügt Jesus die Apostel: „Habt ihr keinen Glauben?“ Obwohl die Situation objektiv gefährlich, ja dramatisch ist, beweist die Todesangst der Jünger („Wir  gehen zugrunde!“) ihren mangelnden Glauben an Christus.  Sie müssten doch wissen: Wenn Christus mit im Boot ist, können sie nicht untergehen.
Auch für uns gilt: Unsere vielen Ängste und Sorgen sind Symptom für unseren Kleinglauben. An der Art, wie wir uns ängstigen – oder nicht, können wir ablesen, wie es um unseren Glauben in Wahrheit bestellt ist.
Das gilt auch für die Sorge, die mildere Form der Angst. Martin Heidegger zufolge ist Sorge die Grundbefindlichkeit des Menschen in seinem prinzipiell ungesicherten Dasein. Jesus hat trotzdem kein Verständnis für Sorgen bei seinen Jüngern. „Sorgt Euch nicht um euer Leben!“, lautet Seine Weisung oder besser: Seine Einladung in der Bergpredigt  (Mt 6,25).
Bei den meisten von uns regt sich gegen diese Aufforderung heimlicher Widerstand: „Ich muss mir doch Sorgen machen! Wie soll ich denn sonst mit allem fertig werden? Ich hab doch so viele Pflichten und Lasten.“
Gerade heutzutage sind wir doch zur Vorsorge verpflichtet. Ständig wird uns von allen Seiten gepredigt, wie wichtig persönliche Vorsorge ist, zum Beispiel zur Absicherung im Alter. So machen sich schon junge Leute heute vor allem Sorgen um ihre spätere Rente. Wir müssen vorsorgen mit Versicherungen aller Art, mit Altersabsicherungen, Vorsorge-Untersuchungen. Da hat der Mensch nicht nur die normalen menschlichen Sorgen zu schultern, sondern außerdem das ganze Paket der Vorsorge. Wenn noch alles in Ordnung ist, wenn ich noch jung und kerngesund bin, muss ich mich also schon sorgen. Vor der Sorge kommt die Vor-Sorge…
Das ganze Leben von der Wiege bis zur Bahre steht unter dem Gesetz der Sorge. Und das, obwohl wir heute in einem Wohlstand leben, von dem frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten. Das ist merkwürdig! Wachsender Wohlstand macht also keineswegs sorgenfrei, sondern erzeugt nur immer neue Sorgen.
So steht das ganze heutige vorsorgende und sich nach allen Seiten absichernde Lebensgefühl diametral gegen die Sorglosigkeit, die Jesus  predigt. Es ist wohl auch hier eine grundsätzliche Entscheidung notwendig. Wir können nicht beiden dienen: Gott und der Sorge (vgl. Mt 6,24).
Jesus benennt ja auch den tiefsten und eigentlichen Grund der Sorgen-Mentalität:  „Ihr Kleingläubigen!“ (Mt 6,30) Der mangelnde Glaube, der Kleinglaube sitzt da an der Wurzel. Man rechnet gar nicht mehr mit Gott. Man traut es Gott überhaupt nicht mehr zu, dass Er sorgt, dass Er sich kümmert.
Im Grunde geht es um die Entscheidung:  Sorge ich – oder sorgt Gott für mich?
Wer ist der Herr in meinem Lebenshaus? Da scheiden sich die Wege. Da scheidet sich der Glaube vom Unglauben. Und das Sorgendiktat unserer Zeit ist eine unmittelbare Folge der allgemeinen Gottvergessenheit.
Nochmal zurück zum Sturm auf dem See. Die Jünger im Boot, im Schifflein des Petrus, das ist seit jeher auch ein Bild für die Kirche und das Schicksal der Kirche. Schweren Seegang hat die Kirche gerade in unseren Tagen zu bestehen, da gibt es schon feindliche Elemente, die die Kirche am liebsten zertrümmern möchten. Aber diese Anfeindung von außen (die notwendigerweise zur Kirche gehört, weil es ihr nicht besser gehen darf als ihrem Herrn, der sich auch unbeliebt gemacht hat), ist noch nicht das Schlimmste.  Am besorgniserregendsten ist es, wie es im Schiff Petri selber aussieht. Die Zerstrittenheit und Uneinigkeit im Inneren, der innere Glaubensabfall, die Selbstzerstörung der Kirche, das ist die größte Not: Theologen, die die Jungfrauengeburt, die Wunder Jesu und seine Auferstehung zu frommen Märchen erklären; oder die wortgewandt  darlegen, das Priestertum und die Sakramente der Kirche seien unbiblische Irrtümer der Geschichte;  Pfarrer und Laien, die ihren Gemeinden selbstgebastelte Got­tesdienste zumuten und um die universale Liturgie der Kirche betrügen; sie alle betreiben – bewusst oder unbewusst – das Werk der Selbstzerstörung des Glaubens.
Es ist ein unumstößliches Gesetz: „Wenn ein Reich in sich selbst gespalten ist, kann es keinen Bestand haben“ (Mk 3,24). Und Nietzsche legt den Finger auf den wunden Punkt, wenn er hämisch prophezeit: „Wenn  die Kirche untergeht, dann nicht wegen ihrer Feinde, sondern wegen ihrer Theologen…“  
Manchmal  kann es einem angst und bange um die Zukunft der Kirche bei uns werden. Und doch dürfen wir nicht den Mut  verlieren. Auch diese Krise müssen wir als Bewährungsprobe des Glaubens begreifen. Die Kirche kann  nicht untergehen, weil Christus das Haupt der Kirche ist. Sie wird nicht von ihren Feinden überwältigt werden, weil  Jesus der auf den Felsen Petri gegründeten Kirche Unüberwindlichkeit  verliehen hat (Mt 16,18).
Die Kirche hat Zukunft, nicht weil wir so überzeugende Christen wären, sondern weil Christus die Zukunft der Kirche ist. Und weil Er sich Sein Werk von niemandem zerstören lassen wird. Dieser Glaube steht gegen die Angst vor dem Untergang. Und er kann zu einem beherzten „Jetzt erst recht!“ befreien.
„Christus braucht hochherzige Mitstreiter“. Nach dieser Maxime gründete einst der heilige Ignatius von Loyola in einer ähnlich notvollen Zeit der Kirche (der Zeit der Glaubensspaltung) mit einer Handvoll Getreuen seine „Compagnia di Gesu“, den Jesuitenorden.
Auch heute braucht Christus nicht solche Jünger, die sich ängstlich, resigniert oder gleichgültig auf die Zuschauertribüne zurückziehen, sondern solche, die sich einsetzen, wo immer sie können. Die – jeder an seinem Platz –  das Wasser aus dem Schiff schöpfen und Lecks stopfen. Die den Steuermann – Petrus in Person des Papstes – unterstützen. Die, ob gelegen oder ungelegen, für die Wahrheit eintreten (2 Tim 4,2). Die ihre Talente für das gute Werk des Glaubens einbringen (2 Thess 1,11). Das Schifflein Petri mag schwanken, es wird uns doch ans andre Ufer bringen. Darum: Fort mit allem Kleinglauben! Und:  „Handle so, als hinge alles von dir ab. Hoffe so, als hinge alles von Gott ab!“ (hl. Ignatius)

Dr. Johannes Holdt ist Pfarrer in Schömberg/Baden-Württemberg.

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