VISION 20001/2015
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Gesiegt haben die Märtyrer

Artikel drucken Besuch an Gedächtnisstätten der Orthodoxen Kirche Russlands (Von Michael Theuerl)

Im Süden von Moskau gibt es den Schreckensort Butowski Polygon. In der Stalinzeit wurden dort viele tausende Menschen  erschossen und in Mas­sen­gräbern beigesetzt. Von August 1937 bis Oktober 1938 wurden dort in nur einem Jahr über 20.000 Menschen hingerichtet und verscharrt.

An diesem Ort des Grauens in den Wäldern südlich von Moskau steht nun eine große orthodoxe Gedenk- und Sühnekirche, wo man für die Opfer betet. Die meisten von ihnen waren ganz einfache Arbeiter im Alter von 14 bis 82 Jahren. Ungefähr 1.000 der Hingerichteten waren orthodoxe Bischöfe, Priester, Ordensleute, die als mutige Bekenner und treue Märtyrer für ihren Glauben starben. Ebenso fanden unsere katholischen Priester und Gläubigen hier den Tod.
Die orthodoxe Kirche hat viele Gedenktafeln mit den Namen, Titeln und Lebensdaten der orthodoxen Märtyrer aufgestellt, so dass es nicht nur bei einem anonymen Gedenken und Gebet bleibt. Mit einem russischen Priester bin ich still betend über die Gräberfelder gegangen; es übersteigt alle Verstandes- und Seelenkraft, sich vorzustellen, was sich hier abgespielt haben mag. Und wir haben gebetet, dass das Blut der Märtyrer der Same für neue Christen sein möge, dass Gott das stille Gebet und geduldige Ertragen so vieler um des Glaubens willen zum Segen werden lassen möge für die Menschen und die Kirche Russlands.
Am eindrucksvollsten war für mich der Besuch im Donskoi-Kloster, das von den Kommunisten aufgelöst wurde und wo man Patriarch Tichon unter Arrest gestellt hatte. Ein orthodoxer Mönch nahm sich zwei Stunden für mich Zeit, um mir alles zu zeigen und zu erklären.
Das Donskoi-Kloster im Osten von Moskau ist älter als 850 Jahre und wurde berühmt, als man eine lkone der Gottesmutter beim Ansturm der Tataren auf Mos­kau (1380) hierher brachte und unter Fürst Dimitri Donskoi die Stadt vor Besetzung und Plünderung gerettet werden konnte. Auf dem Klostergelände befindet sich neben vielen anderen Gräbern auch die letzte Ruhestätte von Alexander Solschenizyn.
Im Jahre 1917 wurde Tichon (1865 -1925) aus drei Kandidaten zum Patriarchen gewählt, eine kleine unscheinbare Person aus ganz einfachen Verhältnissen mit einer großen geistlichen Tiefe.
Schon gleich nach der Wahl zum Patriarchen begann die Christenverfolgung: Schließung und Zerstörung von Kirchen und Klöstern; Verhaftung, Hinrichtung oder Verbannung von Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und einfachen Gläubigen. Lenins Devise lautete: so viele Priester wie nur möglich erschießen!
Irgendwo las ich eine offizielle Schätzung: in den Jahren der Diktatur wurden ca. 600 Bischöfe, 40.000 Priester, 120.000 Mönche und ungezählte Gläubige wegen ihrer Treue zu Christus umgebracht. Die atheistische Propaganda wollte mit Terror eine Gesellschaft ohne Gott errichten.
Der Patriarch wurde im schon aufgelösten Donskoi-Kloster unter Arrest gestellt. Es war für mich sehr bewegend, mit dem orthodoxen Mönch die Treppe nach oben zu steigen und in den zwei kleinen Zimmern zu verweilen, wo der ohnmächtige Hirte all die Jahre furchtbar gelitten hatte: ein kleines Schlafzimmer und ein etwas größeres Wohnzimmer mit einem großen Tisch, an dem er immer „Dialoggespräche“ mit der atheistischen Staatsmacht führen musste, die ihn zwingen wollte, Unterschriften zu geben zur Schließung und Auflösung von Bistümern, Kirchen und Klöstern, zur Absetzung von Bischöfen, Äbten, Priestern, Loyalitätserklärungen gegenüber den Christenhassern…
Durch eine Tür konnte der Patriarch über das Dach zu einem Turm gelangen und in einiger Höhe am Gitter entlang um diesen Turm spazieren gehen, wo er von den Leuten an der Klostermauer gesehen wurde und stumm segnend grüßte. Der Zugang zum Hof war nicht möglich, denn Tag und Nacht saßen zwei Tschekisten (Geheimpolizei) vor der Tür. Im Eingangsbereich der Wohnung gibt es noch einen kleinen Raum für den treuen Diener Jakob, den einzigen Vertrauten des Patriarchen, dessen Familie im Parterre wohnte. Für ein halbes Jahr holte man Tichon in die berüchtigten KGB-Keller, wo viele hingerichtet wurden; danach brachte man ihn als alten, gebrochenen Mann zurück, der nun manches unterschrieb, was nicht zum ihm passte.
Das furchtbare Leiden des Patriarchen wurde noch vergrößert durch eine Kirchenspaltung in den eigenen Reihen; es bildete sich eine Gruppe von Reform-Orthodoxen, die sogenannten Erneuerer, die eine Modernisierung der Kirche wollten, eine Anpassung an die neue Zeit. Diese Erneuerer versuchten mit dem Staat zusammenzuarbeiten, erhofften und bekamen auch Vorteile in der Auseinandersetzung mit der Patriarchatskirche; aber letztendlich half ihnen weder die Anpassung an den Staat noch an die neue Zeit: nach 1935 wurden unter Stalin alle ausgerottet.
Eines Tages zog man alle Geheimpolizisten vom Gelände ab; sogar die beiden Tschekisten vor der Tür des Patriarchen waren verschwunden – irgend etwas würde passieren. Gegen alle Gewohnheit blieb der treue Diener Jakob an diesem Abend länger beim Patriarchen. Als es dunkel war, stürmten Unbekannte die Treppe hinauf und verlangten drohend Einlass – und erschossen im Dunkeln den treuen Diener in der Meinung, es sei der Patriarch. Dieser Vorfall ist im Torbogen am Eingang zum Kloster eindrucksvoll abgebildet.
Jakob bekam ein Begräbnis auf dem Klostergelände; den Patriarchen schaffte man in ein Krankenhaus, wo er einige Zeit später nach einer Spritze im Alter von 59 Jahren starb – sein Kreuzweg war zu Ende. Die Behörden ordneten die Beisetzung auf dem ehemaligen Klostergelände in einer der Kapellen unter dem Fußboden an. Eine Frau erzählte mir, dass viele auf das Gelände kamen, in die Nähe des Patriarchen, der die Menschen tröstete und Wunder wirkte.
Nach der Wende fand man den Sarg wieder und legte den inzwischen heiliggesprochenen Patriarchen Tichon in einen kostbaren Sarg in der Hauptkirche, wo nun viele Pilger und Beter zur Verehrung kommen. Das Obergewand des Patriarchen aus dem Sarg, das Kreuz und die Heilige Schrift, die der Tote in den Händen hielt, sind nun zur Verehrung in seinen Zimmern ausgestellt.
Der heilige Patriarch Tichon ist ein großes Vorbild für die Gläubigen, ein himmlischer Fürsprecher und ein eindrucksvolles Zeichen der Hoffnung, dass die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen können, weil sie Gottes Werk ist. Was hatte der Patriarch nicht alles leiden müssen – rein menschlich gesehen, gab es keine Hoffnung, dass der Glaube überleben könnte unter dem roten Terror; in seiner Verzweiflung blieb dem Patriarchen nichts anderes übrig, als betend, leidend, aufopfernd seine geliebte Kirche dem Herrn in die Hände zu legen, Ihm alles anzuvertrauen ohne irgendein sichtbares Zeichen der Hoffnung.
Und heute sieht man, wie mächtig Gott ist, eine völlig ausweglose Situation zu wenden. Das konnte niemand ahnen. So bleibt uns das Vorbild des hl. Patriarchen Tichon auch heute: nicht der Versuchung der Anpassung an die Staatsmacht oder an die neue Zeit erliegen, in Treue und Liebe zur Kirche für Christus leben, kämpfen und leiden, Ihm im Beten und Aufopfern alles in die Hände legen in dem gläubigen Vertrauen, dass Er auch in menschlich und kirchlich aussichtslosen Situationen immer der göttliche Sieger bleibt in Zeit und Ewigkeit.

Der Autor ist Pfarrer der Katholischen Pfarrgemeinde in Teltow in Brandenburg


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