VISION 20003/2007
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Soll der Mensch auch im Leiden danken?

Artikel drucken (Von Urs Keusch)

Für alles danken: Ist das zumutbar? So die Frage an den Autor. Warum Gott auch für das Leiden, für schmerzliche, negative Erfahrungen im Leben danken? Ist diese Aufforderung nicht schlichtweg unbegreiflich, einfach nicht nachzuvollziehen?

In der Tat: es gehört zum Schwierigsten, über dieses Thema zu schreiben. Denn jedes Schicksal, jede Krankheit, jedes Unglück hat ein eigenes Geheimnis. Allerdings sehen wir all das nur von außen, nicht von innen. Und darum beurteilen wir wohl in den meisten Fällen das Leiden, das Unglück anderer nicht richtig. Die Rabbiner sagen, jeder leidgeprüfte Mensch habe seinen eigenen Engel. Sie meinen: Das, was uns von außen oft schrecklich, sinn-, gnaden-, ja, gottlos erscheint, birgt nicht selten ein göttliches Geheimnis. Es hat oft viel mit der unfaßbaren Liebe Gottes zu tun.

Pater Joseph Kentenich, der Gründer der Schönstattbewegung, hat viel über diese Frage nachgedacht. Er selbst hat in seinem Leben das Konzentrationslager (Dachau), Verkennung, endlose Anfeindungen und Verbannung durch seine eigene Kirche erfahren. Einmal hat er gesagt:

“Wenn wir überlegen, wie der lebendige Gott vielfach uns behandelt hat...! Sehen Sie, wenn wir im göttlichen Lichte stehen, dann sind alle diese Erfahrungen, alle diese ,Mißhandlungen', die Er uns ja nicht selten angedeihen läßt, Liebe. Seine Vaterhand, so pflegen wir gerne zu denken und zu sagen, ist immer eine warme Hand, aber diese warme Vaterhand versteckt sich vielfach in eisernen Handschuhen. Wie sieht der eiserne Handschuh aus? Das sind Menschen, die uns quälen; das sind die Menschen, die uns Unrecht tun. Was sollen wir? In unserem Denken ist das eine Selbstverständlichkeit: Grausamkeiten, Ungerechtigkeiten, in welchem Ausmaß sie uns auch zugefügt werden, sind für uns immer Liebkosungen des Vatergottes."

So sprechen Heilige. So glauben und lieben Heilige. Es klingt alles wie Wahnsinn. Und es ist Wahnsinn. Fast alles im Christentum ist Wahnsinn. Daß die Liebe Gottes in Jesus Christus Mensch geworden ist: das ist Wahnsinn, Wahnsinn der Liebe! Daß Jesus Christus sich in der Eucharistie dem Menschen zur Nahrung gibt: das ist Wahnsinn, göttlicher Wahnsinn! Daß Gott in Jesus Christus aus unendlicher Liebe für uns Menschen ans Kreuz gestiegen ist: Das ist der Wahnsinn einer unendlichen Liebe! Fast alles, was wir christlich glauben, ist Wahnsinn, grenzt an Wahnsinn, weil alles aus einer unendlichen Liebe entspringt.

“Grausamkeiten, Ungerechtigkeiten, in welchem Ausmaß sie uns auch zugefügt werden, sind für uns immer Liebkosungen des Vatergottes." - So können, wie gesagt, nur Heilige sprechen oder solche Menschen, die in einer besonderen Gnadenstunde die Erfahrung dieser unfaßbaren Liebe gemacht haben, die selbst im tiefsten, unbegreiflichsten Leiden oder Unglück Gottes liebende Nähe so intensiv gespürt haben, daß sie solche Verrücktheiten sagen können.

Ich kenne Menschen, die ausgerechnet im größten Unglück, im größten Schmerz die Erfahrung der größten und tiefsten und zärtlichsten Liebe Gottes gemacht haben. Ich kenne Menschen, die Gott für ihr todbringendes Krebsleiden danken, junge Eltern, die Gott danken, daß Er ihr einziges Kind zu sich genommen hat. Ich weiß von einem Vater, der seine Arbeitsstelle verloren hat und Gott dafür dankt. Ich kenne eine Frau, die Gott dankt, daß sie einen gewalttätigen Vater hatte, der psychisch ihr Leben tief geschädigt hat.

Ich denke, es gibt keinen heroischeren und ergreifenderen Ausdruck von Glaube und Liebe zu Gott, als wenn ein Mensch für sein Schicksal, sein Unglück der Liebe Gottes dankt, weil er weiß, “daß alles, auch das Kleinste in unserem Leben eingebettet ist in Seinen Weisheits-, in Seinen Liebes-, in Seinen Allmachtsplan." (P. Kentenich) Aber eben: darum geht es - um den Glauben!

Es geht um den unerschütterlichen und von Gottes mildem Licht erleuchteten Glauben, daß Gott die Liebe ist und jeden einzelnen Menschen so sehr liebt und umhegt, als gäbe es nur ihn ganz allein, und als hätte Er das ganze Universum in 15 Milliarden Jahren nur für diesen einen geschaffen. Das ist der Glaube der Heiligen, das der Glaube der Bibel.

Der Heilige Franz von Sales - dieser große Liebende des Christentums - sagt von sich einmal: “Es ist für meine Gott ganz hingegebene Seele ein wahres Vergnügen, mit geschlossenen Augen dahin zu wandeln, wohin Gottes Vorsehung mich führen mag. Ihre Absichten sind unerforschlich, aber immer wunderbar und liebreich denen, die sich ihr anvertrauen."

Aber die Kriege, die Konzentrationslager, endlose Folter, ein möglicher Atomkrieg, Sadismus an Kindern und Tieren, lebenslange höllische Depressionen, Schizophrenie, Kindesmißbrauch, chronische unerträgliche Schmerzzustände, krankhafte unerträgliche Fettleibigkeit, Vergewaltigung, Hunger, Naturkatastrophen... Das soll noch etwas mit einem liebenden Gott zu tun haben?!

Ja, an diesem Felsen des Leidens - es ist “der Felsen des Atheismus" - zerschellen viele Menschen. Ich bin Menschen begegnet, die gläubig waren, jeden Sonntag zur Hl. Messe gegangen sind - und deren Glauben bei einem schweren Unglück an diesem Felsen zerschmettert und ausgeblutet ist.

Es gibt so heftige, bohrende, unerträgliche Erfahrungen von Leid, Unglück und Schmerzen, vor allem chronische körperliche und Nervenschmerzen, daß man oft lange braucht, bis man wieder zum Glauben und zum Vertrauen auf Gott, den lieben Vater, zurückgefunden hat. Ich selbst habe vor Jahren über mehrere Wochen hinweg so unbeschreibliche Schmerzen erfahren, daß für mich, menschlich gesprochen und empfunden, in diesem Schmerz auch Gott gestorben war. Ich hatte keine Kraft mehr, auch nur einen Gedanken an Gott zu haben. Ich verstehe seither gut, was die Heilige Theresia vom Kinde Jesu, als sie einmal entsetzliche Schmerzen litt, mit diesem Satz sagen wollte: “Schwester, nun weiß ich, warum viele Menschen, wenn sie solche Schmerzen haben, sich das Leben nehmen, wenn sie keinen Glauben haben."

Hier ist Karfreitag. Dunkelheit. Hier ist auch Stunde der Finsternis. Hier brechen wir ein. Hier fallen wir drei, ja 30 Mal auf unserem Kreuzweg. Hier sind wir alle in Gefahr, den Glauben zu verlieren. Hier muß Gott selbst über uns wachen, sich unser erbarmen, damit wir den Glauben nicht verlieren, nicht ganz verlieren. Ja, es ist wahr: Es gibt grauenvolles Leiden in dieser Welt (denken wir an die grauenvollen, unbeschreiblichen Kriege im 20. Jahrhundert!), es gibt schauererregende Finsternis in dieser Welt - kein Mensch sollte es wagen, solches Leiden mit frommen Erklärungen “aufhellen" zu wollen. Er würde sonst die unaussprechliche Furchtbarkeit und Grausamkeit des Karfreitags beschönigen und dem Leiden des Gottmenschen die unendliche Dimension absprechen. Es gibt die erdrückende Dunkelheit des Leidens in dieser Welt, diese immerwährende Anfechtung für unseren Glauben an die Liebe und die liebende Vorsehung Gottes.

Aber wir dürfen von jener anderen Erfahrung nicht schweigen: daß in dieser Finsternis ein Licht leuchtet, das niemand auslöschen kann. Und dieses Licht heißt: Gott ist die Liebe. Nicht die Finsternis der menschlichen Geschichte von ihren Anfängen an bis heute mag dieses Licht auszulöschen. Wem es einmal geleuchtet hat: in der Erkenntnis des Glaubens, im Gebet oder sonst einer gnadenhaften Erfahrung, der kann nicht anders, als an dieses Licht zu glauben. Es leuchtet, es leuchtet in der äußersten Finsternis einer gequälten Schöpfung, es leuchtet und spricht schweigend durch sein Licht in die menschliche Finsternis hinein und möchte sich jeder leidenden Seele zuwenden und zu ihr sagen:

“Verzweifle nicht, wenn du das uferlose dunkle Meer der Leiden der Menschen und Tiere siehst, wenn sein Rauschen dich ängstigt und in die Tiefe ziehen will. Glaube trotzdem an meine Liebe. Sieh auf meinen geliebten, zerschlagenen Sohn! Schau Dir Sein Gesicht an und Seinen Rücken, Seine Hände und Seine Füße und Seine aufgerissene Brust. In Ihm habe ich das unbegreifliche, unendliche und sinnlos scheinende Leiden der Menschen und der ganzen Schöpfung an mich genommen und an mein Herz gedrückt wie ein krankes sterbendes Kind. Ich kann dir nicht erklären, warum alles so ist, wie es ist, du könntest es nicht fassen. Darum bin ich gekommen, es an mich zu nehmen, damit du in allen diesen Erfahrungen von Schmerz und Leid und Unglück auf das Kreuz schauen kannst und weißt: Ich, dein Gott, habe in Jesus, meinem geliebten Sohn, das große, das so schwer auf die ganze Schöpfung drückende Negativzeichen an mich genommen und in Seinem Kreuz zum Pluszeichen gemacht. Auch wenn du es nicht verstehst, glaube an meine allmächtige Liebe. Und wenn du bei mir ankommst, wenn du deinen Weg in dieser Welt tapfer zu Ende gegangen bist, wenn deine tränengeröteten Augen endlich mein Licht schauen werden, dann wirst du erkennen, daß alles, alles Liebe war, Liebe, grenzenlose Liebe. Glaube, hab noch ein wenig Geduld, glaube und bleibe demütig."

Weil wir an diese Liebe glauben, weil wir diese Liebe im Gebet immer wieder erfahren dürfen, weil sie unser Dunkel immer wieder hell macht, weil diese Liebe uns ergriffen hat und uns selbst unendlich liebt: Darum glauben wir, daß es ein Akt höchster Liebe ist, wenn wir unserem Vater im Himmel - mit Seiner Gnade und Seiner Hilfe! - für alles danken, für alles, wirklich für alles: also auch für die unheilbare Krankheit, die Querschnittlähmung, die verlorene Arbeitsstelle, das Kind, das Gott zu sich genommen hat, auch für die Schmerzen, den gewalttätigen Vater, den rauschgiftsüchtigen Sohn, die Tochter, die freiwillig aus dem Leben gegangen ist, für alles, alles, alles, wie Paulus sagt: “Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen Jesu Christi, unseres Herrn." (Eph 5,20)

Denn wir glauben an die unendliche Liebe Gottes, die voll Sehnsucht danach verlangt, in allen unseren Gräbern die Wunder Seiner unfaßbaren Liebe zu wirken. Wir glauben, daß Gottes Liebe in Seinem Reich jeden Schmerz, jede Träne, jeden Verzicht, jedes Unglück, alles Grauen und Leiden in herrliche Glückseligkeit verwandeln wird. Das ist unser Glaube. Das hat uns Christus am Kreuz verdient und am Ostermorgen herrlich vor Augen geführt. Halleluja!

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